■ Ungeachtet der veränderten Asylpolitik und der neuen US-Sanktionen gegen Kuba gibt es in den Straßen Havannas derzeit nur ein Thema: Flucht: Niemand kann die balseros mehr aufhalten
Ungeachtet der veränderten Asylpolitik und der neuen US-Sanktionen gegen Kuba gibt es in den Straßen Havannas derzeit nur ein Thema: Flucht
Niemand kann die balseros mehr aufhalten
Die verschärften Sanktionen, die US-Präsident Bill Clinton am Samstag angekündigt hatte, sind von den Menschen auf Kuba kaum zur Kenntnis genommen worden. Reagiert hat freilich der Kurs des Dollar auf dem Schwarzmarkt. Wenn Clinton jetzt die Geldsendungen der Exilkubaner kappt, gibt es auf der Insel weniger Dollars und – Angebot und Nachfrage – der Wert des kubanischen Peso gegenüber der US-Währung fällt weiter ins Bodenlose.
Ansonsten aber sind in den Straßen von Havanna nicht die Sanktionen Washingtons das alles beherrschende Gesprächsthema, sondern die unzähligen Boote und Flöße, auf denen noch immer Tag für Tag Tausende von Kubanern ihr Land verlassen. Auch am dritten Tag nach Clintons Ankündigung, kubanische Bootsflüchtlinge, die „balseros“, abzufangen und in die US-Basis bei Guantánamo zurückzuverfrachten, wächst die Fluchtbewegung weiter an. Am Sonntag sind allein aus Cojimar, einem Vorort im Osten Havannas, mindestens 300 Flüchtlinge losgefahren, auf Flößen, die diesen Namen oft kaum verdienen.
Fast jeder in Havanna hat einen Familienangehörigen oder Bekannten, der die Flucht übers Meer gewagt hat oder an einem Floß baut, für Freunde Lasterreifen beschafft oder Segeltuch, Kompaß und Ruder organisiert. Auch für diese Dinge steigt der Schwarzmarktpreis ständig. Und so gibt es dringenderes, als auf die Nachrichten zu warten oder sich über Clintons Maßnahmenpaket den Kopf zu zerbrechen: ob der Bruder in Florida angekommen ist, ob man selber auch gehen sollte, was aus der kleinen Tochter des Nachbarn wird, der ohne sie aufs Meer ist.
In der Tat sind noch am Sonntag abend die Maßnahmen Clintons vielen in Havanna im einzelnen überhaupt nicht bekannt. Dabei treffen insbesondere die drastische Reduzierung der Flüge und der Geldsendungen aus Miami die private Überlebensökonomie vieler Kubaner ins Mark. Für zahllose Familien sind die Dollars der Verwandten in Florida zur entscheidenden Stütze geworden, die das Auskommen in diesen bitteren Zeiten möglich macht.
Für die Familie von Graciela López Calle etwa (alle Namen geändert, Red.) hat sich die kritische Versorgungslage ganz schlagartig verbessert, seit vor acht Monaten Carlos, der Mann ihrer Tochter, legal in die USA ausgereist ist. Der Kühlschrank ist voll, die Dollarsendungen des Schwiegersohns machen die Warenwelt des Schwarzmarktes erschwinglich. Trotzdem findet Graciela López die Sanktionen gut – weil sie inzwischen alles gut findet, was gegen Fidel geht. Die Auswirkungen für sie selbst bleiben noch abstrakt, ihr Carlos, da ist sie sicher, wird schon einen Weg finden, das Geld rüberzubekommen.
José Ventura sieht das anders. 34 Jahre lang hat er in der Wirtschaftsplanung der Provinz Havanna gearbeitet, zuletzt im Bereich Möbelherstellung und -verteilung. Jetzt verkauft er lebende Schildkröten vor einem der beliebtesten Kinderspielplätze der Stadt, 20 Pesos das Stück. Gut drei Dutzend ist er heute losgeworden, damit hat er an einem Tag das Sechsfache seiner Monatsrente verdient, und trotzdem sind 800 Pesos nicht viel auf dem Schwarzmarkt. „Natürlich sind alle unzufrieden“, sagt er, und korrigiert sich schnell: „fast alle. Es gibt ja immer die Hundertfünfzigprozentigen.“ Von den neuen Sanktionen Clintons hat er nur vage gehört, aber die ganze Blockade-Politik trifft ja das Volk, das darunter leidet, und sie jetzt zu verschärfen, nein, das sei brutal. Doch wo er sich früher seine Wut gegen den Imperialismus aus dem Hals geschrien hätte, sieht er jetzt den Machtkampf zwischen zwei erbitterten Gegnern, an deren Sturheit die Menschen in Kuba kaputtgehen: „Castro und Clinton müssen sich an einen Tisch setzen und für diese verfahrene Situation hier eine Lösung finden, über Wahlen oder wie auch immer. Und wenn sie dafür zu stolz und zu verbohrt sind, müssen sie das andere machen lassen.“
Doch danach sieht es nicht aus. Während Clinton in Washington die neuen Sanktionen bekanntgab, endete in Kuba Armeechef Raúl Castro seine Rede vor den Parteikadern der Provinz Granma mit den Worten: „In dieser Provinz zogen es unsere Großväter vor, von eigener Hand die Stadt Bayamo niederzubrennen, als sie in die Hände des Feindes fallen zu lassen. (...) Wir sind sicher, daß Ihr als Patrioten mit Leib und Seele auch weiterhin ihrem Beispiel folgen werdet.“ Thomas Rahn, Havanna
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