Ulrike Winkelmann Ernsthaft?: Klumpenbildung vermeiden
Die Radiosendung, an der ich kürzlich teilnehmen durfte, handelte von der Häufung der Großkrisen, die wir derzeit erleben. Bemerkenswert fand ich, dass der Moderator schon gar nicht mehr einzeln ausführte, welche Krisen denn gemeint waren – er schien zu fürchten, die Hörerinnen und Hörer mit der Aufzählung entweder zu langweilen oder zu verschrecken. Wenn Sie jetzt noch nicht in Ihrem inneren Krisenverzeichnis nachgeschlagen haben, kann ich aushelfen: Die Rede war von Klima, Ukraine, Corona, und wer will, kann jetzt noch Arbeitskräftemangel dazusetzen und einen Pfeil zum Thema Pflegenotstand malen.
Ich für meinen Teil kann mich nicht erinnern, jemals mit so vielen schlechten Nachrichten gleichzeitig umgegangen zu sein wie in den vergangenen Monaten – das sagte ich auch so im Radio. Der ebenfalls geladene Medienwissenschaftler hielt dagegen: es handle sich um ein Wahrnehmungsproblem. Das Internet sei voll von Hiobsbotschaften. Früher habe es die schier unendliche Menge verstörender Fotos und aufwühlender Informationen, die das Netz für alle bereithält, eben nicht gegeben. Dabei sei die Welt gar nicht schlechter geworden. In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts etwa seien die Probleme jedenfalls größer gewesen.
Nun war mein Anspruch an die Gegenwart bisher ein anderer als nur der Abgleich mit den Zuständen im Nationalsozialismus. Doch hatte der Mann ja einen wichtigen Punkt: Die Rede von gehäuften Großkrisen verlangt eine Sortierung nach Schwere und Epoche – und das wirft sofort Definitionsfragen auf: Zählen nur Tote oder auch Kranke, und wenn ja, zählen wir die pro Quadratkilometer oder pro Kontinent? Wiegen Vulkanausbrüche so viel wie Umweltverschmutzung?
Trotzdem scheinen ja viele Menschen auf die Weltlage derzeit mit Überforderungssymptomen zu reagieren. Sonst würde die Medienforschung uns nicht von news fatigue berichten: es breite sich Nachrichtenmüdigkeit beziehungsweise -erschöpfung aus, die Leute schalteten ab (nein, nicht alle, ich weiß).
Dabei haben die Nachrichten das wahrhaftig nicht verdient: Aus einem Krieg zum Beispiel wurden wir noch nie so schnell, direkt und reichhaltig mit Informationen hoher Qualität versorgt wie jetzt aus der Ukraine. Gleiches gilt für die Klimakatastrophe: Nie waren die Berichte darüber, an welcher Stelle des Planeten gerade welcher Grenzwert überschritten wird, präziser – diese Woche reichte das Spektrum von Regenwaldvernichtung bis zu Tropennächten in der Arktis.
Ulrike Winkelmann ist Chefredakteurin der taz.
Doch wirkt es, als dringe all dies nicht mehr durch. Unsere Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit ist offenbar nicht mit der Qualität des Materials gewachsen. Journalistisch gesehen ist das ein fast bösartig ironischer Widerspruch. Menschlich gesehen ist das vermutlich kein Widerspruch, sondern nur logisch.
Was ja aber an den Dingen selbst nichts ändert. Dass Klimawandel oder Corona durch Ignorieren weggehen, glaubt eigentlich nur noch die FDP, und selbst da nicht mehr jeder. Vielleicht aber wäre es schlauer, das Gespräch über die Häufung von Großkrisen einzustellen. Sie sind dann immer noch groß genug und stehen in der Zeitung auch noch nebeneinander. Aber sie müssen ja auch nebeneinander in den Kopf passen – und sollen dort nicht zu einem einzigen Unheilsklumpen verschmelzen.
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