Ulrich Weitz : Plakativ
Die (Vor-)Geschichte des Kontext-Plakats zur Wahl (s. Seite 1)
Am Anfang steht eine der erfolgreichsten Werbekampagnen der Deutschen Bundesbahn. Mit dem flotten Spruch „Alle reden vom Wetter, wir nicht“ wird die modernste E-Lok jener Zeit mit einer verschneiten Winterlandschaft kombiniert, um die relativ große Unabhängigkeit der Eisenbahn von Witterungsbedingungen aufzuzeigen. Das war 1966, als Bahnchefs noch nicht nach Ihrer Managementerfahrung in der Automobilindustrie ausgewählt wurden.
Die geistreichste Umdeutung dieses Plakats stammt von Stuttgarter Kunstrebellen. Ulrich Bernhardt, genannt Zwiebel, ein schwäbischer Pfarrerssohn mit rebellischen Genen, ist heute einer der wichtigsten Medienkünstler Stuttgarts. Geschichte schrieb er 1968 mit dem SDS-Plakat „Alle reden vom Wetter – wir nicht“. Das von ihm selbst gedruckte Originalplakat hängt heute im Bonner Haus der Geschichte. Uli Bernhardt erzählt die spannende Entstehungsgeschichte: „Jürgen Holtfreter, ein Apo-Aktivist aus dem Stuttgarter Club Voltaire, hatte eine Collage mit der Bahnwerbung und den Köpfen der Linksheiligen gemacht, als Anzeige für die Falken, die damals von Axel Zimmermann geleitet wurden. Ich sah diesen Entwurf, der mir hervorragend gefiel, und fragte den Fotomonteur Holtfreter, ob ich ihn für die Studentenparlamentswahlen an der Kunstakademie verwenden könne. Er sagte zu und ich kombinierte nun auf rotem Grund die bereits durch TV-Spots, Rundfunk- und Plakatwerbung popularisierte Textzeile ,Alle reden vom Wetter‘ mit den drei revolutionären Köpfen von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin. Doch vom SDS-Vorstand Stuttgart kam kein Segen: die SDS-ler fanden es lächerlich, einen Bahnslogan mit den marxistischen Klassikern zu kombinieren. Doch schon damals gab es schwäbische Querdenker: Der Galerist Hans-Jürgen Müller (,Kunst kommt nicht von Können‘) gab mir 300 Mark für die Repros und den Druck, dann wurde die Rakel in Farbe getaucht und das rote Plakat an der Mensa verklebt.“ – „Wir nicht“ steht unter den Porträts, eine Absage an die Theorielosigkeit jener Zeit.
Fast hunderttausendfach gedruckt, ziert das Plakat bald Studentenbuden und auch manches bürgerliche Wohnzimmer. Mit der Idee der Stuttgarter Rebellen finanziert der SDS Rechtshilfefonds bei Prozessen gegen Landfriedensbruch nach Protestaktionen gegen die Notstandsgesetze. Auch bei Joschka Fischer, Peter Grohmann und Winfried Kretschmann hängt das Plakat in der WG.
Beim Kampf Stuttgarter Bürger gegen S 21 taucht das Motiv wieder auf. Nachdem Stuttgart zur Protesthauptstadt der Republik wird, ist der Satz „Alle reden von Stuttgart 21“ eine richtige Feststellung. Doch die Bahn – symbolisiert durch den stromlinienförmigen ICE-Triebwagen – fährt unbeirrt weiter: „Fahr einfach mit in die Hölle“, so der zynische Kommentar.
Die einst legendäre Werbezeile der Bahn wird für die Bild-Zeitung vom 14. Juli 2010 zur Realsatire. Unter der Überschrift „Wie aus einem legendären Bahnspot reiner Bahnspott wurde“, wird auf die Pannen der Bahn eingegangen. Sogar die Südwestpresse ulkt: „Die Bahn hat zwei Probleme: Sommer und Winter.“
Jetzt hat die Kontext:Wochenzeitung zur Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl eine neue Variante kreiert. Boris Palmer erkundigte sich noch am Wahlabend, wer denn vor ihm in der Mitte gestanden habe, und war mit Friedrich Engels als Vorgänger sehr zufrieden. Statt Karl Marx Kretschmann? „Ah ja, der ist auch ein Philosoph“, kommentierte der Tübinger OB. Statt Lenin Fritz Kuhn? „Beides Strategen.“ Palmer war so überzeugt, dass er das Kontext-Plakat sofort auf seiner Facebook-Seite postete.
Macht man nun Schönwetter beim bisherigen Gegner oder verhagelt man der Bahn die Tour? Die Richtung kennen wir noch nicht. Da ist die kleine Unterzeile „Und Kontext schaut euch auf die Finger“ ganz beruhigend.