Über eine Moral in schwarz-weiss : Keine Kunst
Warum eine sich verselbstständigende Identitätspolitik verheerende Folgen für den Kunstbetrieb hat.
von Raimar Stange
Jüngst habe ich es gewagt, in Berlin auf einer Podiumsdiskussion über die Arbeit zweier Künstlerinnen den Begriff »Relationale Ästhetik« ins diskursive Spiel zu bringen – ein wütender Aufschrei inklusive striktem Redeverbot folgte. Der kurzerhand zensierte Begriff »Relationale Ästhetik«, der übrigens ausgerechnet eine interaktive Kunst des sozialen Miteinander beschreibt, stamme von einem Mann, von Nicolas Bourriaud nämlich. Daher dürfe der für die jüngere Kunstgeschichte durchaus zentrale Begriff nicht benutzt werden, um Kunst von Frauen zu analysieren.
Die klare Trennung von Frau und Mann wird hier also vermeintlich emanzipativ vorgeführt, koste es, was es wolle. Dieser Dualismus hat aber einen entscheidenden Haken: Er basiert auf einem plumpen Essenzialismus, der sich in den vergangenen Jahren im Zuge einer sich zunehmend verselbstständigenden Identitätspolitik auch im Kunstbetrieb etabliert hat.
Solch ein Essenzialismus reduziert Menschen auf biologische Eigenschaften, hier auf das Geschlecht, und ignoriert so gleichzeitig weitere Bestimmungen seiner Existenz wie etwa Beruf, Klasse, Ausbildung und Alter konsequent. Dass diese Reduzierung hochmoralische Züge zeigen kann, ist offensichtlich, dass sie zudem aber auch sozialpolitische Fragestellungen ausblendet, darf nicht übersehen werden. Mehr noch: Die platte Gegenüberstellung von Frau und Mann führt schnell zur Mobilisierung zweier sich unversöhnlich, ja feindlich gegenüberstehender Gruppen, von denen dann eine, statt gemeinsam zu diskutieren und zu streiten, unproduktive Redeverbote installieren will. Mediengerecht allerdings ist diese Showdown-Strategie allemal.
Das erste Mal trat das Problem des Essenzialismus in der Kunstwelt wohl 2017 prominent auf den Plan, als die US-amerikanische Malerin Dana Schutz in New York auf der Whitney Biennale ihr Bild Open Casket präsentierte. Das Gemälde zeigt die Leiche des afroamerikanischen Jugendlichen Emmett Till, der 1955 von zwei Weißen ermordet wurde. Schnell gab es Demonstrationen vor dem Bild, viele People of Colour forderten das Entfernen und sogar die Zerstörung des Bildes. Der Skandal war perfekt, als der Fall dann ein weltweites Medienecho erfuhr.
Das Argument von Schutz‘ Gegnern: Eine Weiße darf nicht das Leid der People of Colour in ihrer Kunst »ausschlachten«, schließlich gehöre sie ja zur Gruppe der Täter und nicht zu der der Opfer. Auch hier wurde ein biologisches Merkmal, jetzt das der Hautfarbe, benutzt, um hochmoralisch Zensur ausüben zu wollen. Absichtsvoll vergessen aber wurde, dass beileibe nicht alle »Weißen« rassistisch denken beziehungsweise handeln und dass auch Nicht-People-of-Colour Empathie und Solidarität mit einer bis heute benachteiligten Gruppe fühlen können.
Identitätspolitisches Kampagning in der Kunst
Für den Kunstbetrieb ebenso verheerend ist eine weitere Folge identitätspolitischen Kampagnings: Zunehmend wird nicht mehr vorrangig über Kunst geredet, also zum Beispiel über die formale Qualität von Open Casket, dem Stil des Gemäldes etc., sondern über die individuellen moralischen Verfehlungen von Künstlern. Ersteres aber ist immer noch entscheidend für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit jedweder Kunst, ansonsten verkommt diese Beschäftigung zu einem dümmlichen Star- oder Antistarrummel – wie übrigens dann in Bremen auch jüngst geschehen, als die Direktorin des Museums Weserburg Janneke de Vries in einem Zeitungsartikel öffentlich kritisierte, den »chauvinistischen Malerfürsten« Georg Baselitz auszustellen, weil dieser den Frauen die Fähigkeit abgesprochen hatte, malen zu können.
Selbstverständlich ist eine dermaßen blöde frauenfeindliche Äußerung zu verurteilen, genauso unsinnig aber ist es, die nicht nur museumsreife Bedeutung der Gemälde von Georg Baselitz mit dessen verbalem Unsinn in eins zu setzen. In den USA werden selbst Pablo Picassos Werke bereits in ähnlicher Weise hinterfragt und man braucht kein Prophet zu sein, um zu behaupten, dass auch bei uns bald weitere Künstler folgen werden.
In »übermoralischen« Debatten wie diesen spielt in letzter Zeit der Begriff des »weißen Mannes« immer wieder eine wichtige Rolle, ein Begriff, der in der postkolonialen Theorie zu diskursiven Ehren kam, dort aber längst als zu vereinfachend und polarisierend kritisiert wird, man lese dazu nur in den Schriften von Edward Said oder Gayatri C. Spivak. Ein solcher »weißer Mann« sei zum Beispiel der Ausstellungsmacher Kasper König, eine legendäre Figur, die vor allem in den 1980er-Jahren im Kunstbetrieb neue emanzipative Standards gesetzt hat. So hat er das Genre der »Kunst im Öffentlichen Raum« erfolgreich in den Kanon der Kunst eingeführt, den Beruf des freien Kurators miterfunden und auch als einer der Ersten sogenannte »Offspaces« im Betrieb etabliert.
Kasper König nun handelte sich im November letzten Jahres in den Münchner Kammerspielen einen handfesten Skandal ein, als er auf einer Podiumsdiskussion junge »Türken«, die mit ihren »dicken Autos« in Berlin-Neukölln auf dem Gehweg parkten, beschimpfte und zudem feststellte, dass Künstler mit Migrationshintergrund, wie die ebenfalls am Gespräch teilnehmende Cana Bilir-Meier, heute im deutschen Kunstbetrieb strategische Vorteile besäßen.
»Es kotzt uns an«
Beide Äußerungen waren unglücklich formuliert, vor allem letztere aber ist sachlich zutreffend. Dennoch wurden diese Aussagen Königs zum Anlass genommen für eine, unter anderem von Cana Bilir-Meier initiierte, Kampagne gegen Diskriminierung im Kunstbetrieb. Unter dem Motto »Es kotzt uns an« wurde dann nicht nur König, sondern der Kunstbetrieb als Ganzes im Handumdrehen als rassistisch verurteilt.
Sicherlich kann man den Kunstbegriff der Generation von König als eurozentristisch bezeichnen. Seine Haltung aber als »rassistisch« zu verurteilen, übersieht, dass diesem Eurozentrismus jedwede biologistisch motivierte Ausrichtung fehlt, und schießt so über das Ziel hinaus. Als »weißer Mann« sei König aber nun einmal ein »Repräsentant der Macht«, habe ergo Schuld an Diskriminierungen im Kunstbetrieb. Dass es auch weiße Männer gibt, die gegen die Macht arbeiten und Hegemonie emanzipatorisch hinterfragen – wie König, ich habe es oben beschrieben –, dieses lässt das plump auf Identität qua Geburt beruhende essenzialistische Denkmodell nicht zu. Da verschweigt man dann auch gerne, dass der geschmähte Kurator schon lange mit Künstlern wie Cheri Samba, Stan Douglas und Bodys Isek Kingelez gearbeitet hat, als andere noch wirklich noch ohne jede Reflexion rein »weiße« Shows darboten.
Bezeichnend ist auch, dass in der Debatte über die Podiumsdiskussion in den Münchner Kammerspielen überhaupt nicht zur Sprache kam, dass Cana Bilir-Meier gerade am Ars-Viva-Kunstpreis teilgenommen hat, an einem Preis also, der vom, wie man früher gesagt hätte, Klassenfeind ausgelobt wird, nämlich dem BDI. An konkreten politischen Problemen wie soziale Ungerechtigkeit scheint die junge Künstlerin also offensichtlich nicht interessiert zu sein, kostenlose politisch korrekte Symbolpolitik inklusive dem Hinterfragen von Identitätskonstruktionen scheint doch wichtiger.
Die international erfolgreiche Künstlerin Hito Steyerl hat dann auch klug festgestellt, dass es bei einer solchen Form der Identitätspolitik weniger um einen tatsächlichen Kampf für verbesserte politische Verhältnisse gehe, als um eine »rein kulturelle Sichtbarmachung [...] verschiedenster Ego-Modelle«, also um hochmoralische Positionskämpfe, die das ästhetischen Feld nicht verlassen und sich auch deshalb »harmonisch in die Produktionsweisen […] des neuen Kapitalismus einpassen«.
Genau darum bleibt die Moral dann wirklich auf der Strecke.
RAIMAR STANGE ist Kunstkritiker und freier Kurator.