Über den Erfolg von Charlotte Roche: Die pink broschierte Klickgranate

Der Literaturbetrieb der Mediengesellschaft: Ab welcher verkauften Auflage entsteht Relevanz? Dopt Prominenz die Literatur? Und ist "Feuchtgebiete" nur ein satirisches Experiment?

Gibt den Affen ordentlich Zucker: Diskursballonverkäuferin Roche. Bild: dpa

Was, wenn die kollektive "Feuchtgebiete"-Expedition dieser Tage nur die Folge eines Experiments wäre? Wenn es sich bei Charlotte Roches Roman um einen kalkulierten Hoax handelte, bei dem maximal durchgeknalltes Zeug, Hämorrhoiden-Analverkehr mit feministischem Überbau, in die Umlaufbahn geschossen wurde, um mal zu schauen, wie das in Talkshows und Feuilletons so ankommt?

Dieser Gedanke drängt sich auf, denn es ist ja selten, dass man alles, darunter viele ernsthafte Texte, zu einem Thema gelesen hat und sich immer noch fragt, ob es überhaupt ein Thema ist. Handelt es sich beim "Feuchtgebiete"-Diskurs nun um eine von 220 Seiten Monumentalquatsch ausgelöste Debattensimulation oder um ein wahres Zeichen der Zeit? Oder ist nicht vielmehr die Debattensimulation an sich, dieser Themen-Tsunami, den manche Medien zunächst ignorierten, der dann aber alle überrollte, das eigentliche Zeitzeichen?

Nach einem ersten Schwung von Rezensionen wurden die "Feuchtgebiete" ab April dieses Jahres ein zweites Mal entdeckt, und zwar wegen ihres gewaltigen Verkaufserfolgs und ihres vermeintlichen Belegcharakters für einen "Neuen Feminismus". Bei 400.000 verkauften Exemplaren in vier Wochen verwandelte sich Quantität in Qualität. Für diesen Wahrnehmungssprung bietet sich das Modell der Matroschka an, deren größte Außenfigur plötzlich unübersehbar - das Buch peilt mittlerweile die Eine-Million-Marke an - in der Gesellschaft steht: Da will man doch wissen, was sich darin verbirgt, auch wenn es in jeder Größenordnung das Gleiche ist und im Kern ganz klein.

Hier wurde eine veränderte Funktion der Literaturkritik deutlich, die weniger über das Schicksal eines Buchs entscheidet, und mehr hinterher mit dem Erklären des unerwarteten Erfolgs beschäftigt ist. Diese Perspektive sowie ihre Metakritik sind im Fall von "Feuchtgebiete" interessanter als der Primärtext: Es ist kein brillantes Buch, aber man kann dank vielfältige Diskursivitätsoptionen super darüber reden und schreiben. Sucht jemand ein dreckiges Gegenbild zu Heidi Klum - bitte schön! Soll die Emanzipation weiter vorangetrieben werden - dann muss schleunigst auch untenrum Gleichbehandlung einziehen. Denken wir nur wirklich frei, wenn wir auch Detailfragen beim Analverkehr thematisieren? - Natürlich, also her mit der Analdusche!

Man muss sich nur entscheiden, in welche "Feuchtgebiete"-Region man will, und schon kanns losgehen, ob man die Angelegenheit nun medienkritisch abfertigt wie Susanne Mayer in der Zeit ("Wie sexy wären die ,Feuchtgebiete', hätten sie als Autor einen Steuersachbearbeiter mit sackendem Bauchansatz?") oder wie Ingeborg Harms in der FAS bis ins Mittelalter ausholt, um über Lessing und den Feminismus des 20. Jahrhunderts zurückzukehren: "Indem [Roches] kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild."

Es bedarf einiger gedanklicher Anstrengung, um pornografische Bilder zu entwerfen, die übertreffen, was im Internet jederzeit greifbar ist. Genau das ist in "Feuchtgebiete" gelungen: "Und wenn ich löffelweise von einem Hundehaufen naschen würde, es würde mir mit Sicherheit nichts passieren." Solche Vorstellungen lassen niemanden unbeteiligt. Die heftigen Reaktionen auf Kritiker- und Leserseite erinnern an die YouTube-Clips aus der Reihe "2 Girls 1 Cup Reactions". Sie zeigen die Reaktionen von Menschen, die einen Pornoclip anschauen, in dem zwei junge Damen ein Tässchen Kot verspeisen.

Reaktion schafft das Werk

Und wie derjenige, der die "Reactions"-Videos gesehen hat, unbedingt wissen will, welcher Clip diese Menschen derart erregt, greift man, von Roches Ekelkostproben in diversen Talkshows oder den Reaktionen darauf neugierig geworden, zu dem Buch, das sich auffällig pinkfarben in den Buchhandlungen stapelt: "Feuchtgebiete" funktioniert wie eine Klickgranate - mit diesem Begriff werden die erfolgreichsten Angebote im Internet bezeichnet, bei denen die Zugriffszahl, nicht aber die tatsächliche Rezeption gemessen wird.

Ob sie "Feuchtgebiete" nun von vorne bis hinten gelesen oder im Schnelldurchlauf auf die entscheidenden Stellen gescannt haben: Bei Amazon.de diskutieren Leser derart angeregt und polarisierend über das Buch, wie es bislang nur unter Internetvideos oder in den Foren der Online-Medien üblich war. Durch die Kommentarebene in den Feuilletons und an der Basis ist dieses Buch groß geworden, doch ohne Diskurs wäre es gar nicht lebensfähig: Das Werk entsteht erst, indem wir und vor allem die Autorin selbst darüber reden. "Feuchtgebiete" ist ein Skript, ein Libretto, das Charlotte Roches Image um die drastischen Dinge bereichert, die als Person auszusprechen für sie obszön wäre, über die in Talkshows, selbst bei Johannes B. Kerner, zu reden jedoch gerade noch möglich ist. Ich bin nicht so vulgär, wie mein Buch vermuten lässt, formuliert sie durch dieses Spannungsverhältnis zur Ich-Erzählerin, aber das, was ich sage, meine ich ernster, als es sich anhört.

Mit der Rezeptionsweise ändert sich auch die Funktion der Autorinnenfigur. Dass dieser metaliterarisch durchkomponierte Porno, in dem kalkuliert die Tabuzonen (Analverkehr, Menstruationssex, Spermabrockenverzehr im Alltag) abgeritten und mit grellen Pointen (Grubenlampe bei der Intimrasur) an die Grenze zur Parodie geführt werden, für die Fernsehmoderatorin eine Spur zu abgebrüht wirkt, ist nachrangig. Es sind eben nicht die traditionellen Fragen nach Autorschaft, nach Schreibpraxis und -techniken, die uns an ihr interessieren. Charlotte Roche ist eine Marktschreierin für ihr eigenes Produkt, die es als Maskottchen beglaubigt wie Franz Beckenbauer seine Bild-Kolumnen und es zugleich performativ ironisiert.

Fernsehgesichter als Plage

Bei YouTube - dieses Buch ist eben perfekt vernetzt - finden sich zahlreiche Videoclips der Lesungen, bei denen Roche aus dem Text ein One-Woman-Kabarett macht und sich phasenweise selbst interviewt: Schon den ersten Satz "Solange ich denken kann, habe ich Hämorrrhoiden" kommentiert sie distanzierend, als hätte sie ihn gar nicht geschrieben. Hier tritt keine Schriftstellerin auf, sondern eine Rezitatorin. Ihr Text wirkt wie eine maßgeschneiderte Präzisierung des Werks "Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern", mit dem sie zuvor über die Bühnen tingelte.

Ist das Buch nurmehr ein mediales Modul, dessen Existenz allein durch die elektronischen Komplementärmodule Talkshow und Internet ermöglicht wird, dazu die Namen Roche, Eva Herman, Hape Kerkeling, in schreiberische Siegesform gebracht durch Fernsehprominenz - hat die Literatur ein Dopingproblem? Beim Blick auf die Fernsehgesichter in den Bestsellerlisten ist man versucht, in der Prominenz eine Plage zu erkennen, ähnlich dem EPO-Missbrauch im Radsport.

Doch zur Beruhigung genügt ein Bewusstsein darüber, womit man es zu tun hat, und eine Justierung der Erwartungshaltung gegenüber solchen "Freak Sales", wie literarische Megaseller in dieser Zeitung treffend bezeichnet wurden: Die Lektüre von "Feuchtgebiete" macht einen weder zum besseren Menschen, noch bleibt ein kluger Satz hängen, aber man kann mitreden. Schon auf der Coverrückseite der Erstausgabe finden sich die Testimonials von zwei prominenten Gutachtern, Roger Willemsen und Silvia Bovenschen, die den Impuls des Das-muss-man-gelesen-haben in die Welt setzten: starke Leserreaktionen als Teil des Primärtextes.

Mittlerweile hat sich ein so riesiger "Feuchtgebiete"-Diskursballon aufgeblasen, dass die letzte spektakuläre Volte allein in der Implosion bestünde, darin, dass der experimentelle Charakter enthüllt und ein Mann als wahrer Autor an die Öffentlichkeit treten würde. Jemand wie Felix Salten, der 1906 angeblich in "Josefine Mutzenbacher" in lebenslustigster Rollenprosa "die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst" erzählen ließ. Roger Willemsen wäre ein idealer "Feuchtgebiete"-Kandidat, weil er mit der weiblichen Ich-Perspektive im Krankenhaus ("Kleine Lichter") Erfahrung hat und in den Talkshows fantastisch über seinen Coup parlieren könnte. Vielleicht war es auch wieder "Schundroman"-Spezialist Bodo Kirchhoff, der 1997 als Autorin Odette Haussmann ("Ich schlucke es herunter, möchtest du das?") erotisch zu reüssieren versuchte. Als seine Identität aufflog und er gefragt wurde, wie er es künftig mit dem Schreiben unter Pseudonym halten wolle, drohte er schließlich: "Ich werde es sofort wieder versuchen."

Und solch ein Teamwork, ein Dirty Old Man und eine attraktive Autorinnendarstellerin, wäre noch nicht mal skandalös, weil das Schaffen der Literatur-Entertainerin Charlotte Roche lehrt, dass der Begriff des Romanciers in der Mediengesellschaft vollends zum offenen Konstrukt geworden ist.

Vom Autor stammt die Studie "Die aus dem Nichts kommende Stimme. Zur Ästhetik des literarischen Debüts in der Mediengesellschaft", erschienen bei Königshausen & Neumann

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