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Archiv-Artikel

ÜBERTEUERTE KLOBÜRSTEN, BÖSE SCHULTÜTEN UND DER FLUCH DES DAUERLATEINS Der Ernst des Lebens

VON ULI HANNEMANN

Das Bauhaus an der Hasenheide ist die reinste Apotheke. Gerade noch rechtzeitig bemerke ich an der Kasse, dass sie mir für die formschöne Klobürste der Marke „Cosy Clean“, die oben in der Sanitärabteilung mit 9 Euro ausgepreist ist, 28 Euro 95 berechnet haben. Bin ich ein Goldscheißer im wahrsten Sinn des Wortes? Die können sich das Gerät sonst wohin schieben, denn wenn ich mir nach dem Kauf einer Klobürste nichts mehr zu essen leisten kann, brauche ich – na, schnackelt’s? – logischerweise keine Klobürste mehr. Oben bei Karstadt finde ich zum Glück fast dasselbe Modell für 10 Euro im Angebot.

Überaus zufrieden begebe ich mich ins Erdgeschoss zurück, wo meine Zufriedenheit rasch Trauer und Entsetzen weicht. Hier werden massenhaft Schultüten angeboten, große und kleine, bunte und ganz bunte – in Berlin scheint der Schulbeginn bevorzustehen. Mit einem Schlag steht das Trauma meiner eigenen Schulzeit wie ein schwarzes Tier im Raum und knurrt mich an: Wie ich systematisch gebrochen wurde mit Mathematiklatein, Jägerlatein, Lateinlatein.

In meiner Erinnerung hatten wir eigentlich immer nur Latein. Und zwar mindestens vom ersten Schuljahr an. Das war eine fatale Modererscheinung wie das provisorische Entfernen der Mandeln. Offenbar wurde davon ausgegangen, wenn ein Schüler Latein lerne, lerne er automatisch alle anderen Sprachen gleich mit. In Wahrheit war es genau umgekehrt: Stattdessen sprach man nämlich überhaupt keine Sprache, noch nicht mal Latein, denn das sprach ja ebenfalls niemand, die waren längst alle tot, und wer sich an der geisteskranken Grammatik versucht hatte, wusste sowohl, warum, als auch, dass dieser Tod furchtbar gewesen sein muss.

Die Lateinlehrer galten durch die Bank als extrem streng: Herr Karzer, Frau Magenbitter und Herr Judenfeind. „Lirum, larum, Löffelstiel“ deklamierend schritten sie militärisch durch die Bankreihen. Wir mussten die Deklination im Chor nachsprechen. Wer aus dem Rhythmus fiel, bekam mit einem biegsamen, in einem Stück aus einer langen Ochsensehne geschnitzten Stock auf der Stelle tierisch in die Fresse. Am Ende der Stunde bluteten fast alle aus Mund und Nase, manche auch aus den Ohren. Natürlich versuchte man durch Fleiß und gutes Verhalten das Schlimmste zu verhindern. So versuchten wir wie ins Eiswasser geplumpste „Titanic“-Passagiere durch hektisches Schnipsen und Rufen panisch auf uns aufmerksam zu machen: „Herr Karzer, ich weiß was?!“

Doch wenn Karzer dann mit seinem spitzen Knochenfinger mehr auf uns zielte denn zeigte, fraß die Angst mit einem Schlag alles Wissen, und du wusstest nichts. Nichts wusstest du. Gar nichts. Und kamst in den Heizungskeller der Schule, wo die Ratten erhängt von der Decke baumelten und die Geister hier unten vergessener Schülergenerationen hohl um die Gnade einer christlichen Bestattung flehten. Das war meine Schulzeit.

Und jetzt die Schultüten. Freudig erregt streifen Mütter und Väter um die Stellagen herum. Doch mir erscheinen die Tüten wie leere Mützen besonders böser Zwerge. Es ist, als schicke man Frontsoldaten zum Hohn mit bunten Helmen voller Süßigkeiten in den Tod. Für die nichts ahnenden Kinder bedeuten sie das Ende ihrer Freiheit und im Grunde auch ihres Lebens, denn was mit Eintritt der Schulzeit bleibt, wird man Leben nicht mehr ernstlich nennen können. Man wird ihren erwachenden Geist in enge Käfige aus nutzlosem Wissen sperren. Die zarten Pflänzchen ihrer aufkeimenden Fantasie wird man in einer beißenden Lauge aus Anglerlatein, Häkeln und Frühsanskrit ersäufen und ihre Seelen in winzig kleine Späne schreddern, bis sie für den Rest ihres Lebens nur noch stumm schreiend aus dem vergitterten Fenster einer Gummizelle oder dem verglasten eines Bankhochhauses starren und auf Boni oder Beruhigungsspritzen warten können. Aber vielleicht sind die Schulen heute ja auch anders.