: UdSSR: Per Volksentscheid zu Opfern und Marktwirtschaft
■ Gorbatschow: „Umschwung wie im Oktober 1917“ / Weitere Opfer für die Bevölkerung / Lebensmittel- und Energiepreise steigen drastisch / Über 10 Millionen Arbeitslose?
Moskau (ap/dpa) - Die sowjetische Regierung unter Ministerpräsident Nikolai Ryschkow hat eine grundlegende Änderung der Wirtschaftstruktur des Landes angekündigt und zugleich ihr politisches Überleben von der Zustimmung der Bevölkerung zu ihren Plänen abhängig gemacht. Vor dem Kongreß der Volksdeputierten sagte Ryschkow am Donnerstag, der Wechsel von der zentralen Planwirtschaft zu einer „geregelten Marktwirtschaft“ sei beschlossene Sache. Am Mittwoch hatte Ryschkows Stellvertreter Masljukow eine Volksabstimmung angekündigt und gesagt, die Regierung müsse zurücktreten, wenn ihre Pläne nicht gebilligt würden. Michail Gorbatschow hatte die Bedeutung des angestrebten Übergangs zur Marktwirtschaft in der UdSSR mit der Oktoberrevolution gleichgesetzt: „Das ist ein bedeutender Umschwung, genauso wie im Oktober (1917)“, sagte er.
Die Pläne umfassen unter anderem die Freigabe der Preise durch den Verzicht auf Subventionen, die Einführung eines vom Staat unabhängigen Bankensystems und ein neues Steuerrecht. Zuerst soll der bisher hoch subventionierte Brotpreis am 1. Juli auf das Doppelte steigen, und am 1. Januar 1991 sollen die Preise für andere Lebensmittel folgen. Parallel sollen Löhne und Ausbildungsbeihilfen angehoben werden, aber nicht um denselben Satz wie die Preise. Als Zielgrößen für Preissteigerungen werden 82 Prozent bei Energiekosten und eine Verdoppelung bei Nahrungsmitteln genannt. Dies vor allem wird auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen.
In einem zweiten Schritt sollen dann das Steuerrecht geändert und die Zinsen von derzeit zwei Prozent einer Marktentwicklung angepaßt werden. In diese Zeit fällt auch die Umwandlung von Staatsunternehmen in Kapitalgesellschaften, von der nach Angaben des Wirtschaftsberaters von Präsident Michail Gorbatschow, Nikolai Petrakow, insgesamt 220.000 Betriebe betroffen sind. Dies entspricht rund 70 Prozent der Gesamtwirtschaft. Der stellvertretende Ministerpräsident Leonid Albakin erwartet Arbeitslosenzahlen in zweistelliger Millionenhöhe. Das Regierungsprogramm soll vom 1.1.91 an innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren verwirklicht werden. Masljukow sagte über ein rascheres Vorgehen angesichts der zu erwartenden Arbeitslosigkeit: „Wir sind nicht in der Lage, einer so großen Zahl von Menschen normale Lebensbedingungen zu gewährleisten. Dies würde das Land an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs führen.“ Gorbatschows politische Zukunft ist de jure nicht an das Überleben der Regierung Ryschkow bei der ersten Volksabstimmung in der UdSSR gebunden, Beobachtern zufolge de facto aber schon. Gorbatschows Präsidialrat, der als eigentliches Machtorgan gilt, wird zusammen mit dem von Ryschkow geleiteten Ministerrat und dem Parlament die notwendigen Ausführungsgesetze erarbeiten müssen.
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