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■ USA: Isolationismus, Multilateralismus oder Alleingang?„Enlargement“ statt „containment“

Fangen wir mit einer Bestandsaufnahme unserer neuen Ära an. Hervorstechend ist erstens, daß der Kern des amerikanischen Konzepts – Demokratie und Marktwirtschaft – mehr denn je akzeptiert wird. Der Sieg der Freiheit hat keine ideologischen, sondern praktische Gründe. Millionen von Menschen auf allen Kontinenten schließen einfach aus ihren eigenen jahrzehntelangen bitteren Erfahrungen, daß Demokratie und Markt der produktivste und befreiendste Weg sind, ihr Leben zu organisieren. Beide Prozesse stärken einander. Demokratie für sich kann Gerechtigkeit schaffen, aber nicht jene materiellen Güter, die notwendig sind, damit die Individuen gedeihen. Die Märkte für sich können den Reichtum vermehren, aber nicht den Sinn für Gerechtigkeit, ohne den jede Zivilisation untergeht.

Demokratie und Marktökonomie erleben in der neuen Ära einen Aufstieg, aber sie triumphieren nicht überall. In weiten Gebieten Asiens, Afrikas, des Mittleren Ostens und anderswo sind Demokratie und Marktökonomie bestensfalls Newcomer – ungewohnt, manchmal mit schlechtem Leumund, oft zerbrechlich. Aber es wäre falsch zu sagen, daß diese Ideen nur vom Westen aufgenommen, vom Osten hingegen zurückgestoßen würden. Es ist die Kultur, die Politik und Ökonomie formt. Und die Idee der Freiheit hat universelle Anziehungskraft. Wir sind weder am Ende der Geschichte angekommen, noch stehen wir vor einem Krieg der Zivilisationen. Vielmehr eröffnet sich ein ungeheures Feld unternehmerischer und demokratischer Möglichkeiten. Dieses Feld dürfen wir nicht verwüsten.

Die zweite wesentliche Tatsache besteht darin, daß wir jetzt die beherrschende Macht sind. Wer etwas anderes behauptet, verkauft die USA unter Wert. Tatsache ist, daß wir die stärkste Militärmacht haben, die größte Wirtschaftsmacht und die dynamischste multiethnische Gesellschaft. Indem wir unsere demokratischen Marktinstitutionen neu entdecken, geben wir der Welt ein Beispiel. Überall wird unsere Führung gefordert und respektiert. Amerikas Macht, Autorität und Vorbild schaffen heute unvergleichbare Führungsmöglichkeiten.

Wenn man davon ausgeht, daß die Verhältnisse in Rußland sich nicht umkehren, gibt es darüber hinaus für absehbare Zeit keine Bedrohung der USA. Es bleiben ernste Probleme: der Terrorismus, die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen, ethnische Konflikte, der Niedergang unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Aber von keiner dieser Krisen geht die gleiche unmittelbare Gefahr für uns aus wie von den Eroberungen der Nazis oder vom sowjetischen Expansionismus.

Politik der Erweiterung

In einer so beschriebenen Welt zwingen uns unsere Ideale und unsere Interessen nicht nur dazu, uns zu engagieren, sondern die Führung zu übernehmen. Die Vermehrung von Marktökonomien auf der Welt hilft unseren Exporten und schafft neue Arbeitsplätze in unserem Land. Zugleich werden durch sie Lebensbedingungen in den neuen Marktökonomien verbessert und Forderungen nach politischer Freiheit erfüllt. Neue Demokratien machen uns sicherer, denn Demokratien führen untereinander keinen Krieg und sie unterstützen den Terrorismus nicht. Sie sind in der Diplomatie glaubwürdiger und verteidigen besser die Menschenrechte ihrer Völker. Diese Dynamik ist es, die Woodrow Wilsons tiefster Einsicht zugrunde liegt. Obwohl ein überzogener Moralismus manchmal die Kraft seines Arguments schwächte, verstand er, daß unsere Sicherheit vom Charakter der ausländischen Regime abhängt.

Unser Hauptziel Demokratie und Markt darf uns aber nicht zu Überreaktionen führen. Um erfolgreich zu sein, muß die Strategie der „Erweiterung“ Unterscheidungen und Prioritäten beinhalten. Sie muß unsere breitgefächerten Ziele demokratischer Stärkung mit den mehr traditionellen geostrategischen Interessen verbinden. Und sie muß überlegen, wie am besten die großen, aber dennoch limitierten Sicherheitsressourcen verwendet werden können: die finanziellen, diplomatischen und militärischen.

Mit der Strategie einer „Erweiterung“ geht eine Reihe von Vorbehalten einher. Wir müssen geduldig sein. Wellen demokratischen Fortschritts folgen oft Rückschläge. Wir müssen auf unregelmäßigen Fortschritt vorbereitet sein, manchmal sogar auf Umkehrungen. Unsere Strategie muß auch pragmatisch sein. Amerikanische Interessen können in bestimmten Situationen auch bedeuten, daß man mit nichtdemokratischen Staaten zu unserem Vorteil den Umgang pflegt oder sie gar verteidigt. Demokratie müssen wir im weiteren Sinne betrachten. Sie darf nicht nur freie Wahlen meinen, sondern auch eine unabhängige Justiz und den Schutz der Menschenrechte. Unsere Strategie muß aber auch Diversität respektieren. Demokratie und freier Markt erscheinen in vielen legitimen Formen. Freiheit hat viele Gesichter.

Multilateralismus als Doktrin?

Es wird verstärkt Rufe geben, daß wir Blutvergießen und ethnische Konflikte bekämpfen sollten. Es wird aber wenige innerstaatliche ethnische Konflikte geben, die eine Militärintervention rechtfertigen. Wir werden eine Auswahl treffen müssen. Der bosnische Konflikt verdient ein amerikanisches Engagement; es ist eine menschliche Tragödie, angefacht durch ethnische Barbarei und geleitet von Aggression gegen einen unabhängigen Staat, und er kann schnell zu einem balkanischen Konflikt werden. Unglücklicherweise werden jedoch die bosnische wie auch die somalische Debatte als Fälle einer Doktrin debattiert, was die Rolle des Multilateralismus betrifft. Wir sollten das Partikulare aber nicht die Doktrin definieren lassen. Außenpolitik muß Prinzip und Pragmatismus verbinden. Wir sollten prinzipiell in unseren Vorhaben sein, aber pragmatisch, was die Möglichkeiten betrifft. Für unsere Sicherheitspolitik kann daher nur ein Faktor bestimmen, ob die USA multilateral oder unilateral agieren: das amerikanische Interesse.

Momentan kocht eine weit fundamentalere politische Herausforderung in den USA. Es ist die Herausforderung, ob wir uns überhaupt ernsthaft international engagieren. Die Debatte ist so alt wie unsere Republik. Zuletzt sahen wir diese klassische Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Internationalisten gewannen damals, teilweise weil sie auf die starke Bedrohung amerikanischer Interessen verweisen konnten, zum anderen, weil die Nation in eine Phase ökonomischer Sicherheit trat. Heutige Vertreter internationalen Engagements haben keinen dieser Vorteile. Die Amerikaner von den Kosten und Lasten internationalen Engagements zu überzeugen ist nicht weniger wichtig, aber es wird schwerer.

In seiner Abschiedsrede im Januar 1953 sah Harry Truman den Zusammenbruch des Kommunismus voraus. „Mit Geduld und Mut werden wir eines Tages in eine neue Ära treten.“ Es ist jetzt an uns, die Herausforderung der Ära anzunehmen. Wir haben eine unvergleichliche Chance, die wir nicht verspielen sollten. Anthony Lake

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