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US-Bundesstaat MissouriDer Seismograph jeder US-Wahl

Dem Sieg im Bundesstaat Missouri kommt symbolische Bedeutung zu: Seit 100 Jahren haben die Bewohner - mit einer Ausnahme - den Kandidaten gewählt, der Präsident wurde.

Kampagne im Symbolstaat: US-Präsidentschaftskandidat Obama im August in Missouri. Bild: dpa

Es gibt sehr wenige Fragen, über die sich Demokraten und Republikaner in Missouri einig sind. Eine jedoch gibt es. Nämlich: Das Rennen ist offen. Völlig offen. "Viele Leute wollen nicht zugeben, dass sie für McCain stimmen werden", sagt die 46-jährige Republikanerin Michelle de Foe in der Universitätsstadt Columbia. "Sie fürchten, dass man sie für Rassisten halten wird, wenn sie Obama nicht wählen." Von einer merkwürdigen Verschwiegenheit berichtet auch die Demokratin Anita Mallinckrodt aus dem kleinen Ort Augusta: "Es herrscht eine seltsame Stimmung", meint die 79-Jährige. "Die Leute erzählen sich gegenseitig nicht mehr, für wen sie stimmen werden."

Anita Mallinckrodt hat lange als Wissenschaftlerin in Washington und in Europa gearbeitet, bevor sie vor einigen Jahren in ihre alte Heimat Missouri zurückgekehrt ist. Die Historikerin, die in Augusta ehrenamtlich die Lokalzeitung herausgibt - Erscheinungstermin alle zwei Monate, Auflage 370 Exemplare -, kennt die Bevölkerung hier sehr genau. "Das Problem der Demokraten ist die Rassenfrage. Ich bin nicht sicher, ob ich dir sagen möchte, dass ich für einen Schwarzen stimmen will: Was würdest du von mir denken? Ich bin nicht sicher, ob ich dir sagen möchte, dass ich nicht für einen Schwarzen stimmen will, denn ich weiß, was du dann von mir denkst."

Das Problem der Republikaner sieht Anita Mallinckrodt in einer Politik der Verheimlichung, die von Präsident George W. Bush und seinem Vize Dick Cheney gezielt befördert worden sei: "Wer in den letzten Jahren bei den Republikanern von der Linie abgewichen ist, wurde als Verräter gebrandmarkt. Es kann gut sein, dass einige Republikaner jetzt demokratisch wählen wollen. Aber sie werden sich hüten, es zuzugeben."

In Umfragen liegen beide Präsidentschaftskandidaten in Missouri fast gleichauf. Die Zahl der Wahlmänner und -frauen, die hier erobert werden kann, ist mit 11 recht bescheiden - verglichen mit anderen umkämpften Staaten wie Florida (27) oder Pennsylvania (21). Die symbolische Bedeutung der Frage, wer in Missouri den Sieg davonträgt, kann jedoch kaum überschätzt werden. Seit hundert Jahren hat dieser Staat - mit einer einzigen Ausnahme: 1956 - stets für den erfolgreichen Kandidaten gestimmt. Das Ergebnis hier gilt deshalb als Hinweis auf den Gesamtsieg.

Ein Zufall ist das nicht, Missouri ist in vielerlei Hinsicht ein Abbild der gesamten USA. Die meisten Städte tendieren zu den Demokraten, die ländlichen Gebiete zu den Republikanern. Fast 87 Prozent der Bevölkerung sind weiß. Nur 11 Prozent sind schwarz - aber mehr als die Hälfte der Einwohner von St. Louis. Die Bevölkerungsdichte von Missouri entspricht etwa dem nationalen Durchschnitt, das Pro-Kopf-Einkommen auch. St. Louis, im äußersten Osten von Missouri gelegen, wird gelegentlich die "westlichste Stadt des Ostens" genannt, Kansas City, im äußersten Westen gelegen, die "östlichste Stadt des Westens". Im Bürgerkrieg stimmte die Bevölkerung für den Verbleib in der Union, Unzufriedene aber schlossen sich als Milizen den abtrünnigen Konföderierten an. Mehrfach wurde Missouri zum Schauplatz blutiger Gefechte zwischen verfeindeten Anhängern der Nord-und der Südstaaten.

Eine Fahrt über Land führt entlang weiter Ebenen und - unvermittelt - durch steile, bewaldete Hügellandschaften. In den Vorgärten stehen kleine Wahlplakate für Kandidaten beider Parteien. Die Republikaner propagieren häufiger lokale Bewerber, die Demokraten weisen meist auch noch auf ihren nationalen Kandidaten hin: Obama. Meist, aber nicht immer. Und man findet ja durchaus auch Schilder, die für McCain werben.

Es gibt eben alles hier im Herzen der USA, aber keine Gruppe ist stark genug, um die anderen zu unterdrücken. Das gilt auch in religiöser Hinsicht: Die evangelikalen Kirchen sind zahlreich vertreten. 19 Prozent der Bevölkerung sind katholisch, 15 Prozent bezeichnen sich als "nicht religiös". Wer Missouri gewinnt, hat die Mehrheit des Mainstreams auf seiner Seite. Wer wird gewinnen?

Wenn man dem Augenschein trauen will, dann kann es an einem Sieg der Demokraten keinen Zweifel geben. 100.000 Zuhörer pilgerten Mitte Oktober zu einem Auftritt von Barack Obama in St. Louis. 44 Wahlkampfbüros der Demokraten gibt es in Missouri - und nur 16 der Republikaner. Michelle de Foe sitzt ganz alleine mit ihrer 13-jährigen Tochter bei McDonalds unweit des Sportstadions in Columbia und wartet auf Mitstreiter, die gemeinsam mit ihr von Tür zu Tür gehen wollen, um für John McCain zu werben. Einige hatten ihre Hilfe per Mail angekündigt. Aber gekommen ist niemand.

Das demokratische Wahlkampfbüro im 28. Bezirk von St. Louis, einer wohlhabenden Gegend mit edlen Villen und kleinen Boutiquen, brummt hingegen vor Aktivität. Jeden Tag kommen neue Leute, die zum Sieg beitragen wollen. Gerard Hutchinson ist ein alter Hase. Seit Monaten läuft der 42-jährige hier für Obama durchs Viertel - und manchmal gewinnt er sogar Aktivisten hinzu. Jason Lang beispielsweise, einen jungen Schwarzen, der sagt, er habe schon länger vorgehabt, sich als Freiwilliger der Kampagne anzuschließen. Jetzt gab Gerard ihm den letzten Anstoß. "Ich gehe gleich hinüber ins Büro." Jason lacht. "Das ist meine Chance, ein Teil all dessen zu sein. Später kann ich meinen Kindern und Enkelkindern sagen: Ich war dabei."

Natürlich klingelt Gerard manchmal auch an der Tür von Republikanern. Aggression sei ihm dabei nie entgegengeschlagen, meint er, nur Resignation. Zwei Adressen weiter unten auf der Liste wird sein Bericht bestätigt. Ein 27-jähriger Finanzberater öffnet, geschniegelt und gestriegelt, in einem strahlend weißen Hemd, mit tadellos sitzender Krawatte und glänzend polierten schwarzen Schuhen. Für McCain will der junge Mann stimmen, weil er dessen Führungsqualitäten vertraut. Wer aber wird gewinnen? Schiefes Lächeln. "Obama." Ja, auch in Missouri. Die letzten acht Jahre hätten einen "schalen Geschmack" bei vielen republikanischen Wählern hinterlassen, auch und gerade wegen der verfehlten Wirtschaftspolitik. Seinen Namen möchte der Finanzberater lieber nicht nennen. Könnte ja sein, dass einer seiner Klienten das sieht, und das wäre dann nicht so gut für ihn. Nach Kampfgeist hört sich das nicht an.

Ist also doch alles gelaufen? Abwarten. Die Haltung der Kirchen spielt eine große Rolle. "Obama behauptet, er sei ein Christ. Das glaube ich ihm nicht", sagt Michelle de Foe verächtlich. Die Werte der christlichen Familie seien wichtig für sie. Deshalb sei sie von Sarah Palin auch noch stärker beeindruckt als von John McCain. Die teile diese Werte. "Von den Medien wird sie einfach unfair behandelt."

Richard Page sieht das ähnlich. Seit über 20 Jahren ist er Pastor der baptistischen Gemeinde in der kleinen Stadt Clinton, die ziemlich genau in der Mitte von Missouri liegt. Schön ist die Stadt nicht. Ein paar Supermärkte, einige Schnellrestaurants - und ein großer, nett geplanter Platz im Zentrum, dem man anmerkt, dass hier ein Versuch gemacht wurde, dem Ort neues Leben einzuhauchen. Der Versuch ist gescheitert. Der Platz wirkt verödet. "Viele Betriebe haben in den letzten 20 Jahren dichtgemacht", erzählt Richard Page. "Wir hatten hier einen Hersteller von Uniformen und eine Fabrik für kleine Elektrogeräte. Die können nicht mehr mit chinesischen Produkten konkurrieren." Inzwischen gebe es hier nicht einmal ein College. Die Jugend müsse wegziehen.

In seiner Predigt hatte der Pfarrer es sorgfältig vermieden, politisch Stellung zu beziehen. Aber er sprach über "choices", über Wahlmöglichkeiten. Und darüber, dass Gläubige sich stets fragen müssten, ob ihre Entscheidungen mit ihrem Glauben und den göttlichen Prinzipien zu vereinbaren seien. Die Gemeinde wird ihn schon richtig verstanden haben. In politischen Auseinandersetzungen stehen die meisten Kirchen und ihre Vertreter auf der Seite der Konservativen.

Die meisten - nicht alle. Der prominente afroamerikanische Prediger James Forbes führt in einer großen, voll besetzten Kirche in einem weißen, gut situierten Stadtteil von St. Louis eine "Unterhaltung mit Gott" über die Wahlen. Viele seiner Kollegen verdammen das, was sie als "Sozialismus" bezeichnen - die Umverteilung von Reichtum. Forbes hingegen verurteilt die Gesetze des freien Marktes, solange nicht wenigstens alle Kinder weltweit genug zum Überleben haben. "Reden wir nicht über die Verteilung von Reichtum. Reden wir über die Verteilung von Luft, Nahrung, Kleidung." Sein Kandidat: Barack Obama.

Kann so eine Predigt etwas bewirken? Die meisten Zuhörer von James Forbes zeigen sich begeistert. Aber sie dürften auch schon vorher beschlossen haben, demokratisch zu wählen. Spielen solche Veranstaltungen überhaupt noch eine Rolle? "Es geht jetzt vor allem um Mobilisierung, nicht mehr um Überzeugung", sagt Wahlkämpfer Gerard Hutchinson.

Die Obama-Kampagne hat den Wahltag minutiös geplant. Mit Hunderten von Helfern, die Kaffee und Regenschirme an Wartende vor Wahllokalen verteilen werden. Ein ausgeklügeltes Informationssystem soll Aktivisten jeweils dorthin schicken, wo die Wahlbeteiligung geringer ist als erhofft. Verträge mit lokalen Taxiunternehmen erlauben, Wählerinnen und Wähler bei Bedarf kostenlos von ihren Wohnungen zu den Wahllokalen und zurück fahren zu können.

Lässt sich dagegen noch etwas ausrichten? Vielleicht. John McCain und seine Anhänger haben sich um Missouri bisher nicht so sehr gekümmert. Sie wollen ihre Kräfte in den letzten 72 Stunden vor dem Wahltag bündeln. Was das konkret heißt? Man weiß es nicht. Kaninchen, die aus Hüten springen, sind ja nur wirkungsvoll, wenn man sie nicht vorher gesehen hat. Das Rennen ist offen. Völlig offen.

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