UN-Migrationspakt auf Twitter: Angeblicher Bot-Grusel
Jeder vierte Tweet zum Migrationspakt soll von einem Bot stammen. Ob wahr oder nicht: Wir müssen viele Infos im Netz genau hinterfragen.
Es ist etwas passiert. Ein Artikel in der Welt ist erschienen, in dem berichtet wird, dass 28 Prozent aller Tweets zum UN-Migrationspakt auf Social Bots zurückgehen. Das soll eine Studie des Berliner Start-ups Botswatch herausgefunden haben.
Weitere Ergebnisse der Studie, für die das Start-up 800.000 Tweets analysiert hat, die zwischen dem 24. November und dem 2. Dezember veröffentlicht wurden: Der Anteil der Maschinen-Tweets ist angeblich fast doppelt so hoch wie sonst bei politischen Diskussionen. Es sei die Behauptung gestreut worden, dass die Bundesregierung die Öffentlichkeit beim Migrationspakt bewusst zu täuschen versucht habe, dass das Abkommen rechtlich verbindlich sei. Und während die Studie im Volltext nicht öffentlich verfügbar ist, zitiert die Welt die Botswatch-Geschäftsführerin Tabea Wilke mit der Äußerung, das Thema Migrationspakt eigne sich sehr gut, „die westliche Wertegemeinschaft infrage zu stellen“.
Was natürlich bedrohlich klingt: Maschinen, die in unsere handgemachten Diskussionen in sozialen Netzwerken eingreifen.Wobei der Social-Media-Analyst Luca Hammer die nicht öffentlich einsehbare Studie umgehend hinterfragte: auf Basis des Welt-Berichts sei nicht nachvollziehbar, wie Botswatch vorgegangen sei, um die Social Bots zu identifizieren, twitterte er. Drastischer noch: „Es gibt keine Beweise für Bots.“
Doch: Selbst wenn man annimmt, dass die Botswatch-Zahlen stimmen – dass jeder vierte Tweet zum Migrationspakt von maschinell befüllten Accounts erzeugt sei –, dann sagt das erst mal wenig über den tatsächlichen Einfluss auf den politischen Diskurs.
Ungelenk und relativ leicht enttarnbar
Social Bots, das sind Maschinen, die in der Kommunikation mit Menschen vorzugaukeln versuchen, dass sie reale Personen seien. Es gibt sie weit länger als Twitter: Schon Mitte der 1960er schrieb der Mathematiker Joseph Weizenbaum „Eliza“ – ein Programm, das sich als Mensch und Psychologe ausgab: Das waren erste Gehversuche auf dem Weg zu dem, was heute als Künstliche Intelligenz durchgehypt wird.
Auch in sozialen Netzwerken gibt es Bots von Beginn an. Zum Problem wurden sie hochgeschrieben, als Besorgnis aufkam, sie würden genutzt, um politische Stimmungen zu drehen. Als etwa ein Großteil der Tweets zu #Brexit und #Remain den Social Bots zugeschrieben wurde. Und die Angst groß war, dass sie auch bei der Bundestagswahl Einfluss haben könnten.
Häufig allerdings wirkten diese Social Bots beim näheren Hinsehen wenig bedrohlich: in der Vergangenheit twitterten viele Maschinen vor allem Links zu Spamseiten und Werbung – womit sie höchstens bestimmte Hashtags populär machten. Komplexere Social Bots, die nicht nur retweeteten, sondern sich aktiv in Diskussionen einmischten, gelten vielen Experten bis heute als ungelenk und relativ leicht enttarnbar. Und selbst wenn ein gut gemachter Bot vom Durchschnittsnutzer nicht hinterfragt, sondern einfach geretweetet wird: dass ein Mensch auf Basis eines unbekannten Twitter-Accounts seine Meinung umkrempelt oder bildet, ist Ausdruck viel tiefgreifenderer Probleme als der der Existenz von Twitter-Automaten.
Nicht alles, was im Internet steht, stimmt
Die größte Bedrohung durch Social Bots liegt darin, soziale Netzwerke und ihre Hashtags als hinreichenden Beleg dafür zu sehen, was Menschen gerade bewegt, in welche Richtung sie angeblich tendieren. Gegen diese Fehlwahrnehmung müssen sich vor allem Medien wappnen. Hold the frontpage: Nicht alles, was im Internet steht, stimmt.
Es gibt sie: die Versuche, Diskurse zu beeinflussen, Falschinformationen zu streuen. Das ist in den vergangenen zwei Jahren offenkundig geworden – allerdings wesentlich bedrohlicher durch Einmischungsversuche von Trollfarmen und koordinierten Social-Media-Raids gegen Andersdenkende, wie sie Showmaster Jan Böhmermann im Zusammenhang mit Reconquista Germanica bekannt gemacht hat.
Daraus müssen alle aufgeklärten Internetnutzer lernen. Vor allem die, die mediale Gatekeeper sind: Stimmungen lassen sich nicht faul vom Schreibtisch aus von Twitter-Trends ableiten. Ein neues Misstrauen ist nötig. Auch wenn das mehr Arbeit macht als das Gruseln vor den bösen Meinungsmaschinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles