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Archiv-Artikel

ULI HANNEMANN, LIEBLING DER MASSEN Stimmenhören am Urbanhafen

„HALLO!“, „HEY!“, „MANN!“ ECHTE BEGEISTERUNG, FALSCHE BEGEISTERUNG. WIE ES IST, AUF DEM RASEN ZU LIEGEN UND MIT DEN OHREN ZU SEHEN

In einem Zeitungsinterview mit dem Schausteller Norbert Witte lese ich einen bemerkenswerten Satz: „Ich baue gerade große transportable Ausschankbetriebe.“ Der verhaltene Optimismus, der unter diesen Worten liegt, senkt Fröhlichkeit in mein Herz. Leichtigkeit auch. Ich lasse mich nach hinten auf die mitgebrachte Wolldecke sinken, die auf dem Rasen am Urbanhafen liegt.

Die Entspannung ist vollkommen, doch die Sinne sind wach. Die beiden jungen Frauen unweit von mir schnattern eifrig vor sich hin. Unbeschwerte Entchen. Wenn ich will, erfasse ich jedes Wort, doch die meiste Zeit will ich nicht, lasse die Wortfetzen einfach an mir vorbeitreiben, ohne mit dem Verstand danach zu haschen, möchte wohl auch, dass die angenehmen Stimmen mir Musik bleiben, die sich nicht durch schnöde Inhalte entweihen lässt.

Über mir formen sich Wolken zum Abbild eines Zwergpudels. Andere Wolken wiederum sehen nur aus wie Wolken, aber es muss ja nicht jede wie ein Zwergpudel, nee, muss nicht. Ich schließe die Augen. Die Medikation scheint genau richtig. Dazu die Entscheidung, nach dem frühen Karriereende den Sommer gründlich zu genießen.

Bei geschlossenen Augen rückt das Damenkränzchen wieder näher ins Bewusstsein. Ich bekomme mit, wie weitere Frauen dazustoßen, Begrüßungen, echte Herzlichkeit hier, falsche dort, Nervosität – man hört so viel mehr, als man sieht. Augen lenken ab. Ein Mann auch dabei, ausländischer Akzent, vorsichtig, keine Stimme, die sich durchsetzt. Nach Beratung wird er Getränkeholen geschickt. Ich versuche mir die Neuankömmlinge vorzustellen. Auf die ersten beiden hatte ich noch einen kurzen Routineblick riskiert, alle anderen will ich mit den Ohren sehen. Besonders interessiert mich die Schrille, die beim Schüchternen ein Sternburg bestellt hat, „weil das billiger ist“, und ständig aufgeregt etwas von einem Paul erzählt. Wer ist eigentlich Paul?

Die Getränke kommen, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Die Schrille wehrt leidenschaftslos gestellte Nachfragen zum Thema Paul pro forma ab, um sie im nächsten Moment mit weiteren Andeutungen mehr anzuheizen, als zu beantworten. Sie platzt fast, das spürt man.

Und schon wieder eine neue Stimme: „Hallo!“, „Hey!“, „Mann!“, „Du!“ Echte Begeisterung, falsche Begeisterung. Die neue Frau muss bald wieder weg. Leider. Leider, leider. Echtes Bedauern, falsches Bedauern. Die Begründung klingt jedoch zu echt, um falsch zu sein. Sie müsse zum Steppen, sagt Nummer sieben. Stolz in der Stimme. Ich stelle sie mir klein und drahtig vor, Sonnebrille, ein paar eingefärbte Strähnen.

„Steppen?“, fragt Nummer fünf und schraubt für die erste Silbe künstlich die Tonhöhe nach oben. „Toll!“, ruft Nummer drei, als müsse sie sich für ein ungeliebtes Weihnachtsgeschenk bedanken. „Ja, oh, toll!“ Das war Nummer sechs. Eine Blonde mit kleinen Sonnenblümchen an den Flipflops. Denke ich mal.

Die Stepperin verabschiedet sich. Ich zähle die Sekunden: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, außer Hörweite.

„Also, ich würd’s nie machen!“, sagt Nummer drei. „Nee!“, scheint sich Nummer zwei richtiggehend zu schütteln, denn das „Nee“ klingt wie „brrr“.

„Ich auch nicht“, ist sich Nummer sechs sicher. „Steppen!“, sagt Nummer fünf und diesmal bedient sie sich für beide Wortsilben der gleichen stark vertieften Tonhöhe. Danach kichern alle gemeinsam, und das Kichern klingt echt.

Ich öffne die Augen. Der Pudel ist verschwunden. Ich setze mich auf und drehe mich um: Sechs korpulente Nazi-Skins in Tarnanzügen starren aus besoffenen Augen zurück. Nee, Quatsch. Die meisten Mädchen passen schon zu ihren Stimmen. Nur die Schrille hätte ich mir ganz anders vorgestellt.