Turn-EM in Berlin: Mehr Mut zum Risiko
Der Berliner Brian Gladow galt lange als Supertalent - dann warf ihn eine Verletzung zwei Jahre aus dem Gleichgewicht. Bei der EM in dieser Woche bekommt er eine neue Chance.
Endlich verletzungsfrei. Brian Gladow kann es selbst kaum fassen. Immerhin hat der Turner des SC Berlin jetzt schon drei Wochen intensives Training am Olympiastützpunkt Kienbaum hinter sich. "Und die Schulter hält immer noch", freut sich der 23-jährige Athlet, der in dieser Woche bei der Turn-Europameisterschaft in Berlin am Barren, Boden und am Reck an den Start geht.
Zwei Jahre lang hat ihn seine schwere Schulterverletzung geplagt. Kein Wunder, dass Gladow wie elektrisiert ist von dieser Heim-EM in der Max-Schmeling-Halle. Sie soll auch die Entschädigung sein für das Verpassen eines anderen sportlichen Ereignisses. Vor drei Jahren hatte er schon einmal etwas ganz Großes vor: die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking. Doch er konnte nicht antreten.
Bis dahin hatte er eine Sportbiografie hingelegt, wie sie sich der Deutsche Turnerbund nur wünschen konnte. In seinem Heimatort Ahrensfelde wurde Gladow bereits in der ersten Klasse als Turntalent entdeckt und in eine Sportfördergruppe gesteckt. "Ich turnte immer mit dem älteren Jahrgang. So war ich mehr gefordert", erinnert er sich an seine Anfänge. Schnell galt er als eines der größten Turntalente in Deutschland. Dass er dann auf dem Sportgymnasium in Hohenschönhausen landete, war keine Überraschung mehr. Und auch die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2008 "wäre nach dem Abitur eigentlich logisch gewesen", sagt der heute 23-Jährige etwas zerknirscht im Rückblick.
Doch kurz vor der Olympia-Qualifikation verletzte er sich an der linken Schulter schwer. Der Arzt untersagte einen Start ausdrücklich. Für Gladow zerplatzte der große Traum.
Er versuchte stetig, die "beiden verlorenen Jahre", wie er diese Zeit im Rückblick charakterisiert, wieder aufzuholen. Mittlerweile ist das dem Turner, der in der Bundesliga für den SC Berlin startet, gelungen. Im vergangenen Jahr wurde er in der Max-Schmeling-Halle deutscher Vizemeister im Mehrkampf. Gladow war selbst am meisten erstaunt darüber, "wie schnell ich mich von ganz unten nach fast ganz oben zurückkämpfen konnte". In diesem Jahr ist er einer der sechs deutschen Herrenturner, die bei der EM an den Start gehen.
Dass ausgerechnet Gladow bei der EM-Nominierung von der Verletzung eines anderen Turners profitierte, gehört in der höchst individualistischen Sportart Turnen wohl dazu. Der deutsche Turnmegastar Fabian Hambüchen kann an dieser EM wegen eines Achillessehnenrisses nicht teilnehmen. "Ich habe die Chance genutzt, den frei gewordenen Platz zu besetzen", sagt Gladow ohne große Emotion.
Der Berliner ist jedoch Realist genug, seine Chancen bei den anstehenden Wettkämpfen richtig einzuschätzen. Die Konkurrenz, auch aus dem deutschen Team, ist groß. Und: Der Sportsoldat gilt in Fachkreisen als risikoscheuer Turner, was in den Zeiten der "Hochrisikoathleten", wie er seine Rivalen nennt, eine echte Ausnahme ist. "Ich wähle immer lieber die Sicherheitsvariante, spätestens seit meiner schweren Verletzung", gibt Gladow offen zu.
Er weiß inzwischen, dass er risikoreicher turnen muss, um wenigstens in seiner Lieblingsdisziplin, am Reck, eine Finalchance zu haben. Deshalb hat er bei der EM-Vorbereitung an seinem Spezialgerät "noch ein paar Teile draufgelegt. Wenn man in der Spitze konkurrenzfähig sein will, bleibt einem keine andere Wahl", klagt Gladow.
Den "Kolman-Salto" zum Beispiel - ein Doppelsalto rückwärts über die Stange mit ganzer Drehung - hat sein Berliner Trainer Jens Milbradt schon vor zwei Jahren von ihm eingefordert. Im Training hatte Gladow selten Probleme, diesen Übungsteil zu meistern. "Aber da ist viel Schaumstoff um die Eisenstange gewickelt, und unten liegt noch ein dicker Schaumstoffblock. Da fällt und landet man weich, wenn es danebengeht", weiß Gladow aus eigener Erfahrung zu berichten. Im Wettkampf gibt es diese Schutzmäntel nicht. Allenfalls harte Matten dämpfen den Aufprall etwas ab.
Jetzt, mit 23 Jahren, hat Gladow sich schließlich dazu durchgerungen, bei dieser EM auch den "Kolman-Salto" zu zeigen. "Ich bin zu einem Spätentwickler geworden", sagt der Turner selbstkritisch. Ausgerechnet er, der in seiner Jugend alle anderen Turner so locker überholt hatte.
Gladow hat mit der EM-Qualifikation durch Kraft und ein erhöhtes Risiko ein für ihn sehr wichtiges Ziel erreicht. Gelitten hat darunter sein eleganter Turnstil. Die schlechteren Haltungsnoten der Punktrichter in den letzten Wettkämpfen dokumentieren das. Früher galt der Berliner neben dem Cottbusser Philipp Boy als der geschmeidigste deutsche Turner. Ihm eilte nie der Ruf voraus, er würde seine Übungen einfach "runterruppen", wie es in der Turnersprache heißt. Gladow schauten die Zuschauer beim Turnen besonders gern zu. Die Leichtigkeit, mit der er scheinbar unangestrengt seinen Körper beherrschte, galt vielen Turnfans als besonders ästhetisch.
Jetzt möchte er seine Eleganz wieder zurückgewinnen, ohne jedoch das Risiko seiner Turnelemente reduzieren zu müssen. "Das ist die größte Herausforderung, der sich ein Turner stellen kann", davon ist Gladow fest überzeugt. Die EM in der Max-Schmeling-Halle soll ihm bei diesem Unterfangen helfen. Wenn die Halle gut gefüllt ist, geht es hier außergewöhnlich stimmungsvoll zu. "Es ist eng und steil, die Fans sind ganz nah dran. Es ist laut, und so etwas kann mich beflügeln", weiß Gladow.
Sicherheitshalber hat er noch 20 Eintrittkarten im Internet bestellt. Die will er an seine Freunde verteilen, damit sie ihn bei dieser EM ganz besonders unterstützen. In dieser Hinsicht geht Gladow lieber kein Risiko ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!