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■ Tun und LassenHeikle Gespräche im Schlafwagen

Wohin auch immer die Reise geht, im Schlafwagen ist sie zugleich eine Zeitreise. Das Ziel ist eine Traumzeit, ein bürgerliches 19. Jahrhundert, wie es wohl nie existiert hat. Eine Welt gepflegter Umgangsformen, traumwandlerischer Höflichkeit und distanzierten Respekts – eines Verhaltenscodes also, von dem die alten kleinbürgerlichen Benimmbücher ihrem Publikum weismachen wollten, er sei den höheren Schichten angeboren.

Wie anders als durch Rückgriff auf eine verschüttete bürgerliche Contenance wäre es wohl möglich und erträglich, daß sich einander fremde Menschen nach einem kurzen Kennenlerngespräch voreinander ausziehen, auf engstem Raum intime hygienische Verrichtungen vornehmen, um dann in jugendherbergsmäßige Stockbetten zu klettern. Die ganze Situation dreier ausgewachsener Menschen, die sich in der Puppenstube des Abteils eines „Trans Euro Night“ ungeschickt umtanzen, um simultan Schuhbänder zu lösen, Zähne zu putzen und sich in Schlafanzüge hineinzuschälen, hat natürlich etwas ausgesprochen Lächerliches. Aber seltsamerweise macht sich bei den an diesem Ritual Beteiligten, wenn sie sich nicht instinktiv unsympathisch sind, bald schon ein wohliges Gefühl breit, eine Art Geborgenheit, die irgend etwas mit dem sozialen Schwebezustand der zusammengewürfelten Gesellschaft zu tun hat – Entronnenheitsgefühle auf der Schwelle zwischen Nähe und Distanz.

Will man diesen Zustand genießen, kommt es darauf an, den richtigen Abstand zu den Mitreisenden zu justieren. Man darf sich nicht zu sehr von ihnen fernhalten; nicht gut, einfach sein Gepäck zu verstauen und sich dann stumm zum Schlafen oder Lesen zu legen. Aber es kann auch schiefgehen, wenn man sich allzu intensiv auf das Gespräch mit dem vom EDV- Schicksal zugeteilten Reisepartner einläßt: Auf dem Weg von Aachen nach Wien fand ich mich kürzlich im „Trans Euro Night Donauwalzer“ in der Gesellschaft eines italienischen Geschäftsmanns, der von einer Geschäftsreise aus Brüssel in seine Wahlheimat Wien zurückkehrte. Nachdem ich mich verstaut hatte, legte er den Corriere della Sera zur Seite, stellte sich vor und begann mich über Berlin auszufragen. Dann war ich an der Reihe, ihn über Wien zu befragen: Wien, erfuhr ich, sei eine sehr angenehme Stadt zum Leben. Zwar habe die Öffnung des Ostens Unruhe gebracht, aber immer noch wohne man dort ruhiger und komfortabler als in den meisten deutschen Großstädten. Es gebe nur ein kleines Problem, das von den meisten unterschätzt werde: die vielen Ausländer. Das könne einfach nicht so weitergehen.

Ich widersprach nicht. Wer waren die „Ausländer“ für Herrn Rossi, der als Italiener in Belgien arbeitet und in Österreich wohnt? Serben? Bosnier? Polen? Tamilen? Türken? Mit dem bangen Gedanken, daß es scheinbar doch nicht reicht, sich klarzumachen, daß wir „irgendwie doch alle Ausländer sind, fast überall“, schlief ich unter dem gleichmäßigen Geruckel des Zuges ein.

Am Morgen wurden wir von Herrn Rossis Begleiterin geweckt, einer eleganten blonden Frau, die sich auf Französisch bitter über ihre Abteilnachbarin beschwerte – eine Deutsche –, die sie bis spät in die Nacht bequatscht habe. Nachdem Herr Rossi uns bekannt gemacht hatte, fügte sie, wie um mich zu trösten, hinzu, die Dame sei „sicher eine Ostdeutsche“. Ich stimmte ihr in meinem besten Französisch zaghaft zu.

Wien war dann aber doch sehr schön. Nur die dortigen Türken kann man vergessen. Der Döner ist für Berliner Gaumen schlicht eine Katastrophe. Und noch etwas: Wiener Schnitzel nicht in Lokalitäten verzehren, die in einheimischer Hand sind! (Nicht kroß, nicht dünn genug, zu teuer.) Geht möglichst zum „Jugoslawen“ oder notfalls auch zum Italiener!

Viktor Sinn

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