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Archiv-Artikel

Trouble im Paradies

Der Islam in der Krise: Zum gegenwärtigen Opferfest sind derzeit fast zwei Millionen Muslime aus aller Welt in Saudi-Arabien. Sie besuchen ein Land, das vor der Zerreißprobe steht – zwischen Liberalisierung, Extremismus und der Treue zur Tradition

VON DANIEL BAX

Ab 1.600 Euro ist man dabei. Es gibt Reiseveranstalter, bei denen man für diesen Pauschalpreis schon eine dreiwöchige Pilgerfahrt nach Mekka und Medina buchen kann. Legt man Wert auf Vollverpflegung, kostet es 200 Euro mehr. Letztlich aber gibt es für jeden Geschmack und Geldbeutel das passende Angebot: vom Schlafplatz in Zeltstädten bis zum Aufenthalt im luxuriösen Fünf-Sterne-Hotel. So wird das jahrhundertealte Ritual einer Religion begangen, die derzeit in einer tiefen Krise steckt, schwankend zwischen den Polen einer lebensweltlichen Säkularisierung und einer fundamentalistischer Verhärtung.

Die Pilgerreise nach Mekka, Hadsch genannt, gehört zu den religiösen Pflichten eines jeden gläubigen Muslims. Als eine der „fünf Säulen“ des Islam ist sie so obligatorisch wie das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten im Ramadan und die Pflicht zum jährlichen Almosen. Mindestens einmal im Leben sollte ein Muslim die heiligen Stätten aufsuchen, sofern er finanziell und gesundheitlich dazu in der Lage ist; vorzugsweise im Wallfahrtsmonat, der jedes Jahr aufs Neue durch den islamischen Mondkalender festgelegt wird. Schon im Mittelalter kamen jährlich etwa dreißigtausend Pilger zusammen, deren Karawanen in Kairo oder Damaskus ihren Ausgang nahmen. Heute beläuft sich die Pilgerzahl auf rund zwei Millionen pro Jahr, wobei die Mehrheit mit dem Flugzeug aus Südostasien anreist.

Die Pilgerfahrt folgt einem festen Programm. Als äußeres Zeichen streifen sich die Männer zwei ungenähte weiße Tücher über, die um Taille und Schultern geschlungen werden, die Frauen hüllen sich ganz in weiße Gewänder, was dem Ereignis den Anschein eines großen Kostümfests verleiht. Siebenmal wird so die Kaaba umrundet, das würfelartige Heiligtum im Inneren der großen Moschee in Mekka. Als Höhepunkt geht es zur Andacht auf den Berg Arafat im Osten der Stadt, wo Mohammed von Gott seine letzten Suren empfangen haben soll. Zurück in Mekka, wird am nächsten Morgen das islamische Opferfest begangen. Traditionell wird dazu ein Schaf, ein Lamm oder eine Kuh geschlachtet – in Erinnerung an Abraham, dem Stammvater auch dieser Weltreligion. Vergleichbar mit dem christlichen Weihnachten, wird das wichtigste Fest des Islam seit gestern – und noch bis Mittwoch – von Muslimen in der ganzen Welt gefeiert.

Ständiger Alarmzustand

In diesem Jahr wurde das Pilgerfest in Mekka von besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen überschattet. Schon öfters wurde der Hadsch von tragischen Zwischenfällen heimgesucht: Als Fanal gilt das Jahr 1979, als Demonstranten aus dem Iran die große Moschee in Mekka besetzten. 1990 brach eine Massenpanik aus, bei der 1.426 Menschen zu Tode getrampelt wurden. Und 1997 kamen bei einem durch heftigen Wüstenwind angefachten Großbrand mehr als 340 Pilger ums Leben. Nach den verheerenden Attentaten in der saudischen Hauptstadt Riad im vergangenen Mai und November hat sich die Alarmbereitschaft im Königreich zusätzlich erhöht. 5.000 Sicherheitskräfte wurden allein in Mekka und Umgebung zusammengezogen.

Die Sorge um die Sicherheit ist begründet: Erst am Donnerstag wurden in Riad fünf Polizisten getötet, als sie sich eine Schießerei mit Extremisten lieferten, die zu al-Qaida gehört haben sollen. Acht Verdächtige wurden bei Razzien festgenommen, ein mit Sprengstoff präpariertes Fahrzeug wurde sichergestellt. Doch alle Vorsicht konnte nicht verhindern, dass es am Sonntag wieder einmal zu einer Panik kam, bei der über 200 Pilger zu Tode getrampelt wurden.

Saudi-Arabien, das für viele Muslime so etwas wie Gottes eigenes Land darstellt, ist sicher eines der widersprüchlichsten Staaten der Welt. Und diese Widersprüche spitzen sich zu. Das Bild der saudischen Städte wird von Shopping-Malls und amerikanischen Fast-Food-Ketten wie McDonald’s und Kentucky Fried Chicken geprägt, den immergleichen Insignien der Globalisierung, und über die breiten Boulevards brausen Pick-up-Trucks und Luxus-Limousinen. Den Alltag aber bestimmen die Regeln eines puritanischen Islams, der nach dem geistigen Ahnherrn des saudischen Königshauses, Ibn Abd al-Wahhab, auch Wahhabbismus genannt wird.

Seine enge Auslegung der Religion avancierte in Saudi-Arabien zur Staatsdoktrin: Dieben drohen harte Körperstrafen und Drogendealern die Hinrichtung. Eine freie Presse existiert nicht, und öffentlicher Protest ist verboten. Frauen dürfen nicht Auto fahren, weil der Schleier ihre Sicht behindern könnte, aber ablegen dürfen sie ihn erst recht nicht. Und die allgegenwärtige Religionspolizei vertreibt sich die Zeit damit, mit dem Filzstift die weiblichen Gesichter zu übermalen, die sie auf den Verpackungen ausländischer Produkte im Supermarkt entdeckt.

In der Geschichte des Islam bildet die wahhabitische Lehre eigentlich ein Randphänomen. Doch in den vergangenen 50 Jahren ist sie ins Zentrum der Entwicklung gerückt und mitverantwortlich für das, was der tunesische Publizist Abdelwahhab Meddeb in seinem gleichnamigen Buch die „Krankheit des Islam“ genannt hat. Der Ölreichtum der saudischen Monarchie hat es ihr ermöglicht, ihr Religionsverständnis weltweit zu exportieren. Mit saudischen Petrodollars finanziert, sind von Bosnien bis Pakistan, von Ostafrika bis Indonesien neue Moscheen und Koranschulen entstanden, die den saudischen Konservatismus bis weit in die muslimische Peripherie tragen und dort lokale Traditionen eines liberalen Islam bedrohen.

Währenddessen haben auch Gastarbeiter und Theologiestudenten das Ihre dazu getan, von ihren Aufenthalten auf der arabischen Halbinsel deren Puritanismus mit zurück in ihre Heimatländer zu bringen. Und übers Internet verbreitet sich, aus saudischen Quellen gespeist und von Autodidakten in der Diaspora aufgegriffen, ein Vulgärislam, der sich vor allem durch Schriftgläubigkeit und antiwestliches Ressentiment auszeichnet: Ein „simplifizierender Islam, der mit seiner eigenen Vergangenheit gebrochen hat“, so Abdelwahhab Meddeb.

Das Wort zum Hadsch

Nichtsdestotrotz nutzten saudische Geistliche den diesjährigen Hadsch, um jedem Terrorismus im Namen des Islam eine Absage zu erteilen. In einer Predigt zum Opferfest, die am Sonntag auch im saudischen Fernsehen übertragen wurde, verurteilte der Großmufti von Saudi-Arabien, Scheich Abdul-Asis al-Scheich, diejenigen, die das Blut Unschuldiger vergössen. Und der Imam der großen Moschee in Mekka, Scheich Salib al-Talib, rief die Pilger zum Auftakt der Hadsch dazu auf, die Heiligkeit der Wallfahrt zu wahren.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass in Saudi-Arabien selbst die Dinge in Bewegung geraten sind. Im Land entzündet sich die Kritik an fehlender Meinungsfreiheit und der Korruption des Herrscherhauses. Zwanzig Prozent Arbeitslosigkeit sogar unter den bislang so verwöhnten Einheimischen und wirtschaftliche Unzufriedenheit tun ein Übriges, um die Situation zu verschärfen. Das hat zu dem Paradox geführt, dass selbst der wohl islamischste Staat der Erde heute ein handfestes Islamismus-Problem hat.

Seit dem 11. September 2001, als eine fußballteamgroße Delegation saudischer Handlanger in den Flugzeugen der Al-Qaida-Attentäter saß, sind die Beziehungen zum langjährigen Bündnispartner USA angespannt. Auch Washington mahnt jetzt Konsequenzen im Wüstenstaat an.

Als Reaktion auf den gewachsenen Druck aus dem In- wie Ausland hat der saudische König Fahd für das nächste Jahr kürzlich demokratische Wahlen auf Gemeindeebene angekündigt: Es wären die ersten in der Geschichte des Wüstenstaats, der 1932 gegründet wurde. Sie sollen die erste Etappe bilden in einem größeren, drei Jahre umfassenden Reformplan, so Fahd, an dessen Ende auch Wahlen zum Konsultativrat stehen sollen. Dieser hat schon jetzt die Aufgabe, die vielfältigen Gruppen des Landes zu repräsentieren, bisher wird er aber noch vom König selbst handverlesen. Aber es tut sich was: Die Kompetenzen des 120-köpfigen Rats wurden erst vor wenigen Monaten erweitert, und seine Sitzungen überträgt seit kurzem das Staatsfernsehen. Auch das ein Schritt zu mehr Transparenz.

Es könnte dennoch nicht genug sein: Liberal gesinnte saudische Intellektuelle fordern weiter gehende Reformen und die schiitische Minderheit im Land mehr Freiheiten. Offenbar von saudischen Dissidenten in London initiiert, fand Mitte Oktober in Riad eine spontane Demonstration statt. Mehrere hundert Frauen und Männer versammelten sich in der Nähe des Kingdom Centre, einem der prominentesten Wolkenkratzer der Stadt, und forderten freie Wahlen. Eine Woche später folgten kleinere Aufläufe in der Hafenmetropole Jeddah und zwei weiteren Städten, die von massiver Polizeipräsenz unterdrückt wurden. 70 Menschen sollen dabei verhaftet worden sein.

Doch das verunsicherte Königshaus ist selbst nicht so frei, dem Ruf nach Reformen bedingungslos Folge zu leisten. Auf der anderen Seite stehen nicht nur fundamentalistische Gruppen, die auf ihre Chance warten, sondern auch das religiöse Establishment, das um seine Pfründen fürchtet und dem das saudische Königshaus bislang seine Legitimation verdankt.

Diese Priesterkaste dürfte kaum gewillt sein, auf ihre Definitionsmacht zu verzichten. Kommende Konflikte sind da programmiert, wie eine Episode zeigt: Als eine der führenden Geschäftsfrauen des Landes, Lubna al-Olayan, Anfang Januar auf einem Wirtschaftsforum in Jeddah einen Vortrag hielt und dabei keinen Schleier trug, kam es zum Eklat. Saudische Zeitungen hatten Bilder gedruckt, auf denen zu sehen war, wie sich die unverschleierten Geschäftsfrauen am Rande der Konferenz mit den männlichen Teilnehmern unterhielten, und es als ein Zeichen für die Emanzipation der saudischen Frauen gefeiert. Der Großmufti Scheich Abdul-Asis al-Scheich, die höchste geistliche Autorität des Landes, kritisierte prompt die Berichterstattung und drohte „ernste Konsequenzen“ an. Eine Lockerung des Schleierzwangs und der Geschlechtertrennung sei die „Wurzel allen Bösen“.

Der Ruf nach Demokratie und die Pluralisierung der Lebensstile holen selbst Saudi-Arabien inzwischen ein. Die Widersprüche zwischen dieser Realität, den Gefahren des Extremismus und den Beharrungskräften der Tradition sind wohl symptomatisch für viele Länder der Region. Saudi-Arabien aber stellen sie vor eine besondere Zerreißprobe.

Die meisten Pilger dürften davon allerdings wenig bemerken. Sie lernen das Land nur von seiner touristischen Seite kennen.