piwik no script img

taz FUTURZWEI

Trend oder Tradwife Der Aufstieg des Sauerteigs

Die Studentin Charlotte R. fing eines Tages an, ihr Brot selbst zu backen. Reaktionärer Backlash oder Erweiterung des emanzipatorisch-selbstbestimmten Lebenstil-Portfolios? Ein Besuch in der Küche.

Auch der komplementäre Espresso muss natürlich per Hand gemahlen und gekocht werden Foto: Foto: Toastter auf Unsplash

taz FUTURZWEI | Als Charlotte R. eines Morgens aufwachte, spürte sie das dringende Bedürfnis, Brot zu backen. Sie duschte, zog sich an, ging in die Küche und buk das erste Brot ihres Lebens. Das war vor zwei Monaten. Seltsam, oder?

Ein Dienstag, 18:19 Uhr. Charlotte R. öffnet mir die Tür. Sie ist 24 Jahre alt, studiert Psychologie im Master in Essen, ist blond mit blauen Augen und so hübsch, dass man sich unweigerlich vergleichen müsste – wäre man keine Feministin. Eine Schürze trägt sie noch nicht, aber sie hat seit jenem Morgen einen ganz besonderen Mitbewohner in ihrem Leben: den Sauerteig. In ihrem Zimmer steht er, unter einem Plakat in Solidarität mit Frauen aus dem Iran, direkt neben ihrem Bett. Genauer gesagt, steht er da nicht, sondern er „geht“ gerade.

„Das mag er, da ist es am wärmsten“, sagt Charlotte R. und trägt die silberne Schüssel sorgsam mit beiden Händen in die Küche. Genauso wie die koreanische Hautpflege und die Lektüre von Das andere Geschlecht gehört das zu ihrer Abendroutine. Sie knetet den Teig, was im Fachjargon „falten“ heißt, streut Mehl darüber, ritzt ein Muster hinein und setzt den Teig vorsichtig in ihren neuen Dutch Oven, einen gusseisernen Topf, den sie in den Ofen stellt.

Madonna der gesellschaftspolitisch Konservativen

20 Minuten bei 250 Grad mit Deckel, dann 30 Minuten bei 235 Grad und 10 Minuten ohne Deckel. Wenn ein Brot im Ofen ist, setzt Charlotte R. direkt das nächste an. Sie holt ihren Bakterien-Organismus aus dem Kühlschrank. Der sogenannte Starter braucht seinen Menschen. „An Weihnachten habe ich ihn sogar mit zu meinen Eltern genommen“, kichert sie. Einmal die Woche muss er gefüttert werden. Ein überschaubarer Aufwand, weniger als ein Welpe oder Tamagotchi. Charlotte R. nimmt einen Esslöffel aus dem Glas mit dem glibberigen Inhalt voller Bläschen. „15 Gramm“ sagt sie und mischt das Zeug mit Wasser. Nach genauen Vorschriften kommen Mehl und Salz hinzu. Dann knetet sie den Teig.

Die aktuelle taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Zur neuen Ausgabe

Wie wird eine Psychologiestudentin zur Brotbäckerin? Etwas unromantisch könnte man sagen: Der Algorithmus hat sie dazu gebracht. Vor allem ein super berühmter Account. Es ist, alle Brotbäckerinnen kennen ihn, Ballerina Farm. 8,5 Millionen Follower auf Instagram. Hannah Neeleman, 33, lebt mit Mann und acht (eigenen) Kindern auf einer Farm in Utah und macht dort sogar Butter und Ricotta selbst. In einem Video spricht sie mit beiden Armen im Sauerteig davon, dass „sich gerade junge Menschen nach dieser Verbindung sehnen“. Über diese moderne Madonna der gesellschaftspolitisch Konservativen, jüngst in hochschwangerem Zustand in Las Vegas zur „Mrs. American gewählt“, gäbe es viel zu sagen, aber hier ist entscheidend, dass Charlotte R. jetzt diese Zufriedenheit spürt, dank ihr.

Gerade holt sie das Brot aus dem Backofen und begutachtet es. Es ist groß und rund. Sie lächelt. Charlotte R. holt ihr Handy raus. Der Algorithmus wirft ihr mittlerweile nur noch Sauerteig-Videos zu. Viele von diesen Brotbäckerinnen nennt das Internet „Tradwives“, traditionelle Hausfrauen, die ihren Männern dienen wollen, dem Staat nicht vertrauen und sehr religiös sind. Die „Domestifzierungsbubble“ nennt Charlotte R. es, während sie durch die Videos scrollt. Eine Frau steht in der Küche. Bildunterschrift: „Wenn dich der weibliche Drang überkommt, deinen Job zu kündigen und zu Hause zu bleiben.“ Charlotte R. muss lachen. Sie sieht das nicht, dass der Sauerteig ihre Hausfrauisierung auslösen könnte. Selbst Ballerina-Farm-Hannah sei eigentlich eine knallharte Unternehmerin mit einem Ofen, der mehrere 10.000 Euro koste und hat einem Milliardär als Schwiegervater.

Hobby, Liebe und Instrumentalisierung

Am selben Tag, nur drei Stunden früher, sitzt Ilka N. an ihrem schönen alten Holzküchentisch. Sie ist 55, und wenn man zu Klischees neigt, dann ist sie vermutlich so gekleidet und auch sonst so, wie man sich eine richtig gute Mutter vorstellt. Von Tradwives hat sie noch nichts gehört. Ach, trendy? Der Sauerteig sei doch nichts Neues. Sie backt seit 2019 ihr Brot. Man munkle, Jesus Christus sei schon in seinen Genuss gekommen. Dass junge Menschen neuerdings darauf stehen, war ihr aber schon vor diesem Besuch klar. Bei einer Techno-Party ihres Sohnes hatten sich die jungen Menschen um ihren Starter gerissen. Eine Verwandlung von emanzipierten Frauen in kleine Hausmuttis sieht auch Ilka N. nicht. Sie backt, weil es ihr Spaß macht. „Ich habe kein emotionales Verhältnis zu meinem Sauerteig“, sagt sie und streicht tatsächlich eher sachlich über eines ihrer Gläser, während Charlotte R. ihren Starter sehr liebevoll zu streicheln pflegt. Brot backen sei ein Hobby für alle Sinne. Außerdem würden die Zeiten härter. Die Probleme der Welt kämen dem eigenen Leben immer näher. Klima, Kriege, Zukunftsunsicherheit: „Brot zu backen, ist da ein toller Ausgleich“, sagt sie.

Das sind jetzt noch keine wissenschaftlich verwertbaren Daten, aber lebensempirisch kommt es einem so vor, als würde die Zahl der Brotbackenden rapide zunehmen. Selbst die Unternehmerin Ute K. aus Berlin lief unlängst mit einem seltsam flachen Brot durch ihre Wohnung und rief ganz unglücklich: „Mein Sauerteig ist irgendwie beleidigt. Ich glaube, ich habe ihn nicht sanft genug behandelt.“

Jetzt darf man sich keine Illusionen darüber machen, dass es Mächte gibt, die den Sauerteig dafür instrumentalisieren wollen, um Frauen zurück an den Herd zu treiben. Aber unserer Psychologiestudentin Charlotte R. kann man getrost zutrauen, nicht dem Patriarchat zu verfallen, jedenfalls nicht durch Brotbacken. Gerade holt sie ein weiteres Brot aus dem Ofen. Sie strahlt. Und das Brot sieht auch aus, als würde es lachen.

Die Liebe des Algorithmus zu Hausfrauen mag reaktionär sein, aber ein Sauerteig ist es nicht.

Dieser Beitrag ist im Original in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es im taz Shop.