■ Tour de France: Nosferatu auf Rädern
Berlin (taz) – „Das sind Mörder“, stammelte im Jahre 1910 der Franzose und spätere Sieger Gustave Lapine, als die Teilnehmer der Tour de France erstmals die Paßhöhe des Tourmalet erklimmen mußten. Heute werden die meisten Fahrer der 82. Frankreich- Rundfahrt ähnliche oder schlimmere Bezeichnungen für die Organisatoren bereithalten, denn bei der 15. Etappe steht nicht nur der berüchtigte Tourmalet (2.014m) auf dem Programm, sondern ganz nebenbei sind noch Peyresourde (1.569m), Aspin (1.489m) und der abschließende Anstieg nach Cauterets (1.310m) zu bewältigen. Den nicht minder berüchtigten Aubisque (1.709m) hat man den Radprofis freundlicherweise für den folgenden Tag aufgehoben.
129 von 189 gestarteten Fahrern waren zum sonntäglichen Pyrenäen-Aperitif der 14. Etappe über 164km nach Guzet-Neige angetreten, die meisten von ihnen befanden sich in keiner sonderlich vorteilhaften Verfassung. „Bei jedem kleinen Paß fallen viel zu viele zurück“, beobachtete der Schweizer Alex Zülle, Zweiter im Gesamtklassement und einer der wenigen, die mit Spitzenreiter Miguel Induráin einigermaßen mithalten können. Grund für die allgemeine Erschöpfung ist die Streckenführung, die zwar relativ wenige große Bergetappen aufweist, den Radlern dafür aber zwischen Alpen und Pyrenäen einige mittlere Klötze in den Weg legte und kaum Gelegenheit zum Bummeln und zur aktiven Erholung ließ. Gestern gab es dann zwar einen Ruhetag, aber ein solcher bekommt vielen Fahrern erst recht nicht, weil sie aus dem gewohnten Rhythmus kommen und die Beine am nächsten Tag um so schneller schwer werden. Bei Marco Pantani dürfte das kaum der Fall sein. Das Kalkül des 25jährigen ist in mehrfacher Hinsicht aufgegangen. Zum einen hatte er mit seinem Vorhaben Erfolg, durch eine spiegelnde Glatze von seinen großen Ohren abzulenken – viele Kollegen nennen ihn statt „Elefantino“ jetzt „Nosferatu“ –, zum anderen hat es der neue König der Berge inzwischen gelernt, zum richtigen Zeitpunkt davonzufahren. Noch im vergangenen Jahr griff er stets zu früh oder zu spät an, diesmal stimmt das Timing und nach seinem Sieg in L'Alpe d'Huez gewann er auch bei Regen und Nebel in Guzet-Neige.
Auf der viertletzten Steigung war der Italiener in seinem gewohnt unregelmäßigen, hektischen Stil davongeschossen und selbst auf den glitschigen, kurvenreichen Abfahrten machte er – das Hinterteil weit zurückgestreckt, mit dem Bauch auf dem Sattel – Sekunden gut. Wegen seiner Schwäche beim Zeitfahren ist Pantani für Induráin kein Konkurrent um den Gesamtsieg, darum läßt der ihn normalerweise ziehen, während er die Attacken seiner Verfolger Zülle, Laurent Jalabert oder Bjarne Rijs sofort im Keim erstickt. Gleichmäßig und elegant schnurrte der Spanier an seinem 31. Geburtstag die Hänge hinauf, forcierte erst am Schluß das Tempo, wurde Etappendritter und nahm seinen Rivalen weitere Zeit ab.
An Tourmalet und Aubisque hätten sie theoretisch die letzten Gelegenheiten, den Mann im gelben Trikot in Schwierigkeiten zu bringen, doch im Grunde glauben sie selbst nicht daran, daß ein anderer als Induráin am Sonntag als Sieger in Paris ankommen könnte. „Mal sehen“, sagte Alex Zülle auf die Frage, wo er besser als Induráin sei, „er ist besser im Zeitfahren. In den Bergen auch. Ich weiß nicht ... vielleicht darin, daß ich mehr Cola trinke als er.“Matti Lieske
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