■ Tour d'Europe: Trendsetter Italien?
Obwohl sie – parlamentarisch und außerparlamentarisch – innerhalb eines Jahres in die tiefste Niederlage der Nachkriegsgeschichte gestürzt und durch die Scheidung in zwei relativ festgefügte Parteien gespalten ist, scheint gerade Italiens Linke stärker als jede andere Europas wieder Fuß zu fassen. Während die Genossen in Österreich, Deutschland, Frankreich und Spanien noch ihre Wunden lecken, sammelt sich in Italien ausgerechnet um den traditionellsten Teil linker Bewegungen ein ansehnliches Potential – um die Arbeiterbewegung. Jahrzehntelang als reaktionär verschrien, oft genug im Verdacht heimlicher Kungelei mit den Mächtigen, gelang den Gewerkschaften Ende 1994 eine seit Kriegsende nicht mehr erlebte Massenmobilisierung. Die Kommunalwahlen zeigten auch einen starken Wiederaufstieg linker oder linksliberaler Bündnisse.
Darüber hinaus mobilisiert sich auch jenseits der Parteien und Gewerkschaften eine teils alte, teils neue Linke. Intellektuelle, Künstler, Medienschaffende, Studenten haben sich eingereiht in die Demonstrationen; die Debatte über die notwendigen Transformationen ideeller Systeme ist in vollem Gang. Neidisch schielen Linksgruppen und -denker anderer Länder in den Süden. Wahlforscher, Historiker, Soziologen warnen einerseits vor allzu platter Übertragung der „Wende der Wende“ auf andere Länder. „Der neue Linkstrend ist wohl vor allem auf die einmalige Situation einer Regierungsbeteiligung der neofaschistischen Rechten zurückzuführen“, urteilt der Politologe Renato Mannheimer, und der Gesellschaftsphilosoph Lucio Coletti vermutet gar, daß „die eruptiven Millionendemonstrationen weniger gegen Berlusconi gerichtet als vielmehr Ausdruck der seit Jahren beobachteten Staatsverdrossenheit waren“ – und daß „diese in ihrer Richtung noch nicht bestimmt ist“. Will heißen, daß sie durchaus auch noch einmal – wie im vergangenen Jahr – von der Rechten selbst genutzt werden könnte.
Andererseits aber scheint der linke Aufschwung vielen Beobachtern ein Signal für andere Länder – „man kann zumindest erkennen, daß die Zukunft linker Ideen noch lange nicht hinter uns liegt“, sagt der Soziologe Luigi Manconi. Im Ausland scheint man das ähnlich zu sehen – einschlägige Gruppen in Italien zählen so viele Besucher wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Von einer „Flut von Anfragen und Einladungen“ berichten die Referenten von Linksdemokraten- Chef Massimo D'Alema. Der venezianische Bürgermeister Cacciari, Philosoph und so etwas wie der Bannerträger unorthodoxen Linksdenkens, ist kaum mehr zu Hause, soviel Schlaues über die neulinke Renaissance soll er verklickern. Und sogar der Chef der Altstalinistenpartei Rifondazione comunista, Fausto Bertinotti, gilt inzwischen als höchst willkommen, wenn irgendwo ein Symposium zur Frage „Linke, wohin?“ abgehalten wird.Werner Raith
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