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Totschweiger und Lobmaschinen

Wurde Mikhail Agrest, Musikdirektor des Stuttgarter Balletts, nach einem Disput mit dem Ex-Intendanten Reid Anderson fristlos entlassen? Und wenn das der Fall ist, warum wurde es vom Ballett nicht vermeldet und warum haben die Stuttgarter Zeitungen nicht darüber berichtet?

Reid Anderson hat die Ballettintendanz zur Spielzeit 2018/19 abgegeben – den Taktstock aber hat er wohl behalten. Foto: Foto [M]: Roman Novitzky

Von Rupert Koppold↓

Am 25. November 2021 schreibt die Herausgeberin des „Ballett-Journal“, Gisela Sonnenburg, in ihrem Online-Portal: „Es ist schon ein paar Wochen her. Bei einer Bühnenprobe für John Crankos Ballett ‚Onegin‘ stießen zwei künstlerische Positionen aufeinander. Reid Anderson, aus Kanada stammender Ex-Intendant vom Stuttgarter Ballett und derzeit als graue Eminenz und Coach tätig, war mit dem Tempo, das der deutlich jüngere russische Star-Dirigent Mikhail Agrest musikalisch vorgab, überhaupt nicht einverstanden …“.

Nun ja, kein besonderes Vorkommnis, sollte man meinen, ein kleiner Geschmacksdisput dürfte an den Bühnen dieser Welt alltäglich sein. Anderson, der offiziell nicht mehr Ballett-Chef ist, sondern diesen Posten an Tamas Detrich übergeben hat, würde sich mit Agrest, dem Musikdirektor des Balletts, schon irgend­wie verständigen.

Der Stuttgarter Disput jedoch, schreibt die Journalistin und Choreographin, ging so weiter: „Als Agrest vom Orchester auch noch Applaus für seinen Widerstand gegen Andersons Diktat erhielt, war das Maß für den alten Ballettdoyen voll. Kurzerhand ließ er Agrest rauswerfen, und der Stardirigent, der unter anderem am Covent Garden in London, am Mariinsky in Sankt Petersburg und an der Semperoper in Dresden Triumphe feiert, wurde wie ein Krimineller hinausgeführt. Es folgte die schriftliche fristlose Kündigung nebst Hausverbot.“

Diese Geschichte allerdings, die laut „Ballett-Journal“ „derzeit an den Stuttgarter Theatern kolportiert“ werde, wäre eine größere Sache, um nicht zu sagen: ein starkes Stück. Aber hat es überhaupt stattgefunden?

Keine Zeile in den Stuttgarter Zeitungsnachrichten

Nun, wenn man die Stuttgarter Zeitungen StZ und StN liest, dann wohl nicht. Wenn wir nichts übersehen haben: Keine Zeile über einen Fall Mikhail Agrest. Wobei diese mehr oder weniger miteinander verschmolzenen Blätter und deren einzige Tanzredakteurin schließlich nah dran sind am Stuttgarter Ballett. Sehr nah dran. Vielleicht zu nah? Schon die Menge der Artikel – Vorberichte, Aufführungen, Porträts, Buchpräsentationen und anderes mehr – zeigt den Stellenwert an, den nicht nur das Feuilleton dem Stuttgarter Ballett zuspricht. Dass dieses weltberühmt ist und Spitzenleistungen auf die Bühne bringt, soll nicht in Frage gestellt werden. Wohl aber, dass sich die Stuttgarter Zeitungen (die etwa bei Podiumsgesprächen mit dem Ballett kooperieren) wie die Werbeabteilung dieser Tanzinstitution gerieren. Und eine heile Ballett-Welt vorgaukeln, in der es keine Risse geben darf.

Wie viel Lob kann man in einem Artikel unterbringen? Sehr viel, wie nicht nur die StZ-Zeilen zur Gala anlässlich des fünfzigsten Geburtstags der John Cranko Schule zeigen. Schon in den ersten beiden Absätzen finden sich diese Formulierungen: „Reichtum an Können, Vielfalt an Stilen“; „wie aus einem Füllhorn“; „beeindruckende Damen-Soli“; „gymnastische Virtuosität“; „heiterer Höhenflug“; „große Musikalität“; „Gespür für angesagte Bewegungsdetails“; „Neugierde und Lebendigkeit“. Und so lobhudlerisch geht das weiter und immer weiter. Ihren Text leitet die Autorin übrigens so ein: „Wäre er nicht auf tragische Weise 1973 viel zu früh gestorben, könnte John Cranko heute ein rüstiger Senior im Alter von 94 Jahren sein.“ Nun, wer vom Lebenswandel Crankos gehört hat – und dies soll keine moralische Wertung sein! –, der kann bei so einer Konjunktiv-Imagination nur den Kopf schütteln.

Der Name Agrest ist einfach verschwunden

Aber zurück zum Fall Mikhail Agrest. Wobei es, wie gesagt, für die Stuttgarter Gazetten (Stand Dienstagabend, 7. Dezember 2021) gar keinen Fall gibt. Beim Googeln findet sich auch andernorts nichts dazu, außer im zitierten „Ballett-Journal“, einer engagierten, kundigen und meinungsstarken Online-Publika­tion. Recherchieren wir mal ein bisschen hinterher. Im Mai 2019 durfte Agrest, der vorher schon mehrfach in Stuttgart dirigiert hatte, für die umjubelte Neuproduktion von „Mayerling“ ans Pult („ein weltweit gefeierter Gastdirigent“, so damals das Stuttgarter Ballett), im September 2020 wurde er dann Musikdirektor des Balletts. Für seine neue Stelle ist er von Sankt Petersburg nach Stuttgart gezogen, er hat hier also seine Zukunft gesehen.

Im Staatstheater-Spielzeitbuch 2021/22 ist Agrest auch noch, etwa für die Wieder­aufnahme von „Onegin“ am 23. ­Oktober 2021, als Dirigent aufgeführt. Im Besetzungszettel zu dieser Aufführung aber steht schon: „unter der Leitung von Wolfgang Heinz“. Heinz ist Agrests Stellvertreter, als solcher ist er auch auf der Homepage des Balletts aufgeführt. Der Name Mikhail Agrest und die Position des Musik­direktors dagegen sind dort inzwischen verschwunden. Ohne Erklärung.

Der Stardirigent, der sich den Takt nicht vorgeben lässt. Screenshot: mikhail-agrest.com

Spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich direkt ans Stuttgarter Ballett zu wenden. Die am 3. Dezember von Kontext gestellten Fragen an die Presseabteilung des Balletts lauten so: „Könnten Sie mir bitte mitteilen, warum Herr Mikhail ­Agrest nicht mehr als Musikdirektor beim Stuttgarter Ballett arbeitet? Stimmt es, dass er entlassen wurde? Stimmt es, dass er Hausverbot hat? Können Sie mir die Gründe dafür nennen? Warum wurde dieser Vorgang nicht in einer Pressemitteilung vermeldet? Sind in diesem Zusammenhang schon juristische Vorgänge zu verzeichnen, konkret auch: Finden Abfindungsverhandlungen statt? Ist schon ein Nachfolger im Gespräch?“

Die Antwort der Assistentin und Pressereferentin des Geschäftsführenden Intendanten der Staatstheater lautet so: „Sehr geehrter Herr Koppold, vielen Dank für Ihre Anfrage. Bitte haben Sie Verständnis, dass die Staatstheater Stuttgart sich nicht öffentlich zu Beschäftigungsverhältnissen äußern können. Gegebenenfalls informieren wir über die Ihnen bekannten Kanäle.“

Hmm. War’s das? In ihrem Journal hat Gisela Sonnenburg, die der Ballett-Welt Klüngelwirtschaft vorwirft und sich als kritische Begleiterin („Häppchenjournalismus reicht nicht aus“) sieht, geschrieben: „Bleibt abzuwarten, was für ein weiteres öffentliches Echo die Sache findet. Wenn die deutsche – vor allem die schwäbische – Presse nicht nur von Konzernen wie Porsche, dem Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts, beherrscht wird, rollt hier ein Skandal an.“

Ob also dieser Fall – und um einen solchen handelt es sich offensichtlich! – von den Stuttgarter Zeitungsnachrichten (StZN) einfach weiter totgeschwiegen werden kann? Ob sich nicht doch noch andere Medien der Sache annehmen, dadurch die lokalen Monopolisten in Zugzwang bringen und die mediale Lobmaschine ein bisschen ins Stottern kommt?

Hier auch noch eine Frage an das Stuttgarter Ballett: Wissen Sie, wie man Transparenz buchstabiert?

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