■ Thesen zum innerstaatlichen Sicherheitskonzept: Wie sicher ist sicher?
I.
Ist „Innere Sicherheit“ das Monopol der Konservativen?
Der Mensch braucht Sicherheit. Ohne Freundschaften, gewohnte Milieus, konstante Beziehungen, Stätten der Erinnerungen, wiederkehrende Rituale, ohne Kontinuität könnten Menschen sich kaum als Personen konstitutieren und Identität bewahren. Zugleich braucht der Mensch den Wandel. Wäre die Zukunft die ewige Wiederholung des Gegenwärtigen, würden wir in Apathie versinken. Wer über Sicherheit nachdenkt, muß den Wandel mitdenken. Das Thema Sicherheit ist so wenig ein „konservatives“ wie Wandel ein „links-alternatives“ Thema ist.
II.
Der Begriff „Innere Sicherheit“ ist ein Code für ein Sicherheitskonzept, das das Problem der Sicherheit in mehrfacher Weise verkürzt: Sicherheit wird heute vor allem bezogen auf Kriminalität. Zwischen Kriminalität und Sicherheit wird ein kausaler Zusammenhang behauptet mit der Konsequenz, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse zu fordern, um weniger Kriminalität und damit mehr Sicherheit herzustellen.
Für einen Zustand, der als sicher zu definieren ist, gibt es keine eindeutigen Kriterien. Ob eine bestimmte Kriminalitätsrate als Beeinträchtigung der „Inneren Sicherheit“ angesehen wird, hängt nicht von deren Höhe ab, sondern davon, in welchem gesellschaftlichen Kontext diese Kriminalitätsrate steht. Das Vorhandensein von Kriminalität allein schafft nicht Unsicherheit, die Abwesenheit von Kriminalität schafft nicht Sicherheit. Sicherheit ist immer zugleich eine subjektive und/oder politische Bewertung dieser Faktoren. Die Fixierung der Politik der „Inneren Sicherheit“ auf Kriminalität führt zu einer politischen Dynamik, bei der unter dem Fanal der „Inneren Sicherheit“ die Durchsetzung der Forderung nach Ausweitung polizeilicher Befugnisse spiralförmig immer neue Forderungen nach weiteren Befugnissen auslöst. Dieser Politik ist also von vorne herein ihre Erfolglosigkeit eingeschrieben.
III.
Mit dem Begriff der „organisierten Kriminalität“ wird die Vorstellung erzeugt, es handele sich um eine Kriminalität auf höherem organisatorischem Niveau. Die Merkmale, die als typisch für die „organisierte Kriminalität“ angesehen werden – planmäßige Begehung, mehrere Beteiligte, auf längere Zeit angelegt, arbeitsteilige Kooperation – waren und sind jedoch typisch für klassisch-kriminelle Handlungen wie Wirtschaftsverbrechen und bestimmte Formen der Bandenkriminalität.
IV.
Wer Zustände wie in Italien ernsthaft befürchtet (oder sie zweckgerichtet an die Wand malt), wo mafiose Strukturen tatsächlich den Freiheitsraum der Bürger einschränken, muß sich fragen, ob er der Durchdringung von Staat und Politik durch das Verbrechen allein durch die Polizei begegnen will und wie er sich dazu stellt, daß weitestgehende Polizeibefugnisse, zum Beispiel in den USA, diesen Prozeß nicht verhindern konnten.
V.
Der „Große Lauschangriff“ steht – neben anderen Forderungen zur Ausweitung polizeilicher Befugnisse wie zum Beispiel der Legalisierung von Straftaten verdeckt arbeitender Ermittler – zur Debatte. Es ist absurd: Während mittels der Begriffe „Innere Sicherheit“ und „organisierte Kriminalität“ Gefahren hypostasiert werden, die übermächtig erscheinen, ist es ganz einfach, diesen Gefahren zu begegnen. Diejenigen, die mittels „organisierter Kriminalität“ Millionen und Milliarden verdienen, sollen durch Wanzen etc. abgehört und überführt werden können. Als ob diejenigen, die heute Verbrechen in gesetzlich geschützten Räumen verabreden, morgen, wenn es dieses Grundrecht nicht mehr gibt, ungerührt Verbrechensverabredungen weiterhin in ihrer Wohnung durchführen.
Ist die Forderung nach Einführung des „Großen Lauschangriffs“ unter dem Aspekt der Verbrechensaufklärung auch absurd, so hat sie dennoch eine politische Funktion: Sie inszeniert politisch das Links-rechts-Schema, das bewirkt, daß sich die Konservativen als Hüter der Sicherheit gerieren, während demgegenüber die Linke (einschließlich der verbliebenen Liberalen) Freiheit einfordert.
VI.
Die Begriffe „Innere Sicherheit“ und „organisierte Kriminalität“ sind trotz oder wegen ihrer Konturenlosigkeit politische Kampfbegriffe geworden und sie erzielen Wirksamkeit. Mit Hilfe dieser Begriffe wird ein Gefühl der Unsicherheit aufgegriffen, dramatisiert und kanalisiert. Im politisch links-alternativen Spektrum ist in der Vergangenheit versäumt worden Gegenkonzepte zu entwickeln. Wir sehen uns als Protagonisten einer besseren Zukunft und überließen die Sicherung einer schlechten Gegenwart den Konservativen.
VII.
Unsicherheit hat eine unendliche Zahl von Ursachen. Zum Politikum werden nur solche Ursachen, von denen durch Politik und Medien behauptet wird, sie verunsichern. Objektive Fakten besagen wenig, solange sie nicht öffentlich thematisiert und problematisiert werden. Deswegen kann alles, was als unsicher gilt, schnell als unsicher erkannt werden und kann das, was Insider als Unsicherheit ansehen, im Bewußtsein der Bevölkerung als sicher wahrgenommen werden. Ein vernünftiges innerstaatliches Sicherheitskonzept kann daher wegen der Diffusität seines Gegenstandes nur pragmatisch sein, im Gegensatz zu einem Konzept der „Inneren Sicherheit“, das ideologisch ist.
VIII.
Ein pragmatisch orientiertes innerstaatliches Sicherheitskonzept könnte in jenem Feld positive Effekte bewirken, das als typisch für die „organisierte Kriminalität“ angesehen wird: Das ist der Handel mit Drogen. Seit mehr als 20 Jahren ist das staatliche Repressionsinstrumentarium erweitert worden. Zirka 2.000 tote Fixer durchschnittlich in den letzten Jahren, prall gefüllte Haftanstalten, Junkies ohne Perspektive und verzweifelte Eltern bezeugen ein Desaster dieser Politik. Ein Neuanfang kann nur darin bestehen, an die Stelle einer auf Repression setzenden Politik eine Politik zu setzen, die den Konsum von Drogen nicht länger unter Strafe stellt und die Abgabe an Süchtige staatlich kontrolliert. Eine solche Politik rechtfertigt sich pragmatisch aus dem Scheitern des bisherigen Politikansatzes und nicht aus der Vorstellung, jeder habe das Recht auf seinen Rausch. Würde eine solch pragmatische Politik einschlagen, würde einerseits das Leid von Junkies gemildert und zugleich strukturell kriminelles Handeln in Form „organisierter Kriminalität“ unmöglich gemacht.
IX.
Am Beginn des europäischen Verfassungsstaates stand einmal der Satz: „My home ist my castle!“ An die Stelle dieses aufklärerischen Satzes ist heute die Politik der „Inneren Sicherheit“ getreten. Gestorben ist nicht bloß die Freiheit, sondern auch die Vorstellung der durch grundrechtliche Freiheit geschaffenen Sicherheit. Uwe Günter, Wolfgang Wieland
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