Tanz-Festival Euro-Scene: Tisch mit sieben Metern Durchmesser
In Leipzig bringt der Wettbewerb um "Das beste deutsche Tanzsolo" ganz verschiedene Tanzszenen zusammen. Im Mittelpunkt stehen Avantgarde- und Tanztheater aus Osteuropa.
Am Anfang ist das Atmen. Eine junge Frau steht am Rande der Bühne, einem runden Holztisch mit sieben Metern Durchmesser und keucht. Kopf und Oberkörper sind von einem archaisch anmutenden Wollstrang lose umwickelt. Sie beugt sich nach hinten, immer weiter, liegt auf dem Rücken, in der Mitte der Bühne.
Schweres Atmen, Keuchen, Röcheln. Sie ist auf allen vieren. Zittern durchfährt den Körper. Sie zieht den groben Schal über ihr Gesicht, und schüttelt ihn ab und zieht sich am eigenen Schopf nach oben.
Nur mit einer kurzen weißen Hose bekleidet, die Wolle in der einen, die eigenen hellblonden Haare in der anderen nach oben gezogenen Hand, steht sie da und wirft den Fetzen beiseite. Schnaufen, Keuchen, Zusammenbrechen. Auf allen vieren kriecht sie rückwärts zurück zu dem Wollhaufen. Das Licht geht aus.
Die fünf Minuten sind um, das um alle Seiten der Bühne verteilte Publikum spendet Christine Borch reichhaltigen Applaus. Im Hintergrund strahlt das einstige Uni-Hochaus durchs Fenster. Willkommen beim Wettbewerb "Das beste deutsche Tanzsolo" in Leipzig.
Nicht nur Tanzprofis
Bereits zum zehnten Mal hat das Festival Euro-Scene, das in Leipzig alljährlich Avantgarde- und Tanztheater vor allem aus Osteuropa zeigt, zum Tanzwettstreit eingeladen, der in einem zweijährigen Turnus stattfindet. Die Idee dazu stammt von dem belgischen Choreografen Alain Platel.
Die Regeln des Tanzsolos sind einfach: Auf einem runden Tisch von sieben Metern Durchmesser müssen die Tänzerinnen und Tänzer fünf Minuten lang ein Solo darbringen. Eine Besonderheit dieses Wettbewerbs, so Euro-Scene-Chefin Ann-Elisabeth Wolff, ist, dass sich nicht nur Tanzprofis bewerben können, sondern alle, die den Mut aufbringen, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dieses Jahr gab es 88 in der Vorauswahl, von denen 20 sich in den öffentlichen Vorrunden am vergangenen Freitag und Samstag präsentieren durften.
Vergeben werden drei Jury- und ein Publikumspreis. Das "deutsch" im Titel bezieht sich dabei nur auf den Austragungsort Leipzig. Die diesjährigen Teilnehmenden kamen aus Deutschland, Korea, Dänemark, Lateinamerika, Russland, Ungarn und Österreich, leben und arbeiten aber zumeist schon seit vielen Jahren hier.
Weltreise durch die Tanzstile
Samstag, 22 Uhr. Das Publikum versammelt sich um den runden Tisch, der dieses Jahr im Ring-Café seinen Platz gefunden hat. Im ehemals größten Tanzcafé der DDR lässt sich noch der Glanz der 1950er Jahre bewundern. Holzgetäfelte Wände, Kassetendecke und Säulen mit Emailleverzierungen lassen erahnen, wie die sozialistische Zukunft damals aussehen sollte.
René Reinhardt, künstlerischer Leiter des Tanzsolos, führt charmant im offenen blauen Hemd, T-Shirt und viel Sympathie für seine Tanzschützlinge durch den Abend. Er verspricht eine Weltreise von orientalischem Tanz über HipHop und Tango bis zu ganz eigenen Stilen. Es geht los.
Der HipHop-Tanzlehrer Dodzi Dougban hat seine fünf Minuten auf den 38,47 Quadratmetern Tisch am Ende des Abends. "Ich habe Tanz und Rhythmus im Blut. Schon als Baby hat meine Mutter mich auf den Rücken geschnallt und mit mir getanzt", erzählt der 32-Jährige mit den togolesischen Wurzeln. Diese Mischung aus afrikanischem Stil, HipHop und Capoeira-Anleihen prägen seinen Tanzstil.
Aggressiver Breakdance
Bei der Musikauswahl setzt der Recklinghausener vor allem auf Bässe. Das ist nicht nur eine ästhetische Frage, sondern auch eine technische, denn Dougban ist gehörlos, und die Bässe geben da eine wichtige Orientierung. Sein Solo entstand mit der Choreografin Kama Frankl. "Bist du aufgeregt vor dem Wettbewerb?" - "Nein!" In Leipzig kommt sein Stil an: Aggressiver Breakdance, gekoppelt mit Gesten der Verletzlichkeit und vertanzte Gebärdensprache sorgen für einen gefahrlosen Einstieg ins Finale.
Andere haben weniger Glück, nur fünf der zehn Angebote schaffen es ins Finale. Dabei benennen die Jury vier Beiträge und das Publikum einen Beitrag. Letzteres stimmt für In-Jung Jun, die mit ihrer eindrucksvollen Zimbelperformance nicht nur sich, sondern auch die Becken zum Tanzen und auf ungeahnte Weise zum Klingen und Verstummen bringt, was frenetischen Applaus provoziert. Sie bleibt Publikumsliebling und wird auch den entsprechenden Preis am Ende für sich reklamieren können.
Gleicher Ort, 24 Stunden später. Alle Plätze sind besetzt, am Eingang müssen Gäste abgewiesen werden. Die Tänzerinnen und Tänzer vom Vorabend bilden mittlerweile ihre eigene Peer-Group, und Moderator Reinhardt kommt immer noch in blauem Hemd und Turnschuhen. Der Uni-Riese strahlt durch die Fenster, und auf dem jetzt mit Tanzteppich bezogenen Tisch beginnt Stefania Giannetti mit der tänzerischen Gestaltung eines Mandalas.
Hinten im Raum sitzt Eva Isolde Balzer, die als Sechste auftreten wird. Sie ist ausgebildete Schauspielerin und Kulturanthropologin. Tanz hat für sie ein ganz spezielles Potenzial: "Während ich über Improvisationen große Freiheit und Tiefe erlange, kann ich über Tanz, besonders den klassischen indischen Tanz, sehr präzise arbeiten", erklärt sie.
Donner und OP-Töne
Ihre Performance ist sehr zurückgenommen. Statt Musik verwendet sie Regen und Donner. Mit minimalen Bewegungen steht sie die Hälfte der Zeit in der Bühnenmitte, um nach dieser Sammlungsphase mit emphatischem Stampfen aus der Trance auszubrechen. Auch ihr gelingt der Einzug ins Finale.
Narrativ-biografisch ist der Ansatz von Krisz Fönix Bärlein. Er ist seit 2004 in Berlin, gibt HipHop-Kurse und tanzt in verschiedenen Kompagnien. Über Basketball - er spielte sogar in der Nationalmannschaft - kam er zum HipHop. In der Choreografie "YX-Change", die unter der Mitarbeit von Irina Spaar und Jenny Mahr entstanden ist, verarbeitet er seine Geschlechtsumwandlung vor zwei Jahren.
"Ich will allein sein, ich will zur Ruhe kommen", schallt die Stimme Katja Riemanns aus den Boxen, bevor mit Turnhallensound unterlegter HipHop einsetzt und Bärlein dazu Basketballmoves vollführt. Dann Wechsel. Er liegt im blauen Licht in der Bühnenmitte: OP-Töne, Aufbäumen, Wegwerfen des Trikots. Auferstanden als Mann präsentiert er zu wummernden Beats seine Narben, Tattoos und seine neu gewonnene Lebensfreude. Ab ins Finale.
Zur letzten Runde am Sonntag ist selbst Dodzi Dougban aufgeregt. Der Anspruch ist spürbar höher, und alle Teilnehmenden sind äußerst gespannt. Wieder begrüßt René Reinhardt, diesmal im schwarzen Anzug, das Publikum und ruft die Tänzerinnen und Tänzer auf. Trotz der Kurzinterviews auf der Bühne vergeht dieser Abend, ein Best-off der beiden Vorrunden, wie im Flug.
Der Moment der Wahrheit
Beim Publikum mit besonderem Applaus bedacht wird die Leipzigerin Renate Luda, Jahrgang 1947, die in einer bezaubernden Stimmung Alltagsbewegungen - DDR-Reliquien wie der Freundschaftsgruß inklusive - zu einer wunderbaren Parodie zusammenfügt. Schon die Teilnahme am Finale ist ihr der größte Gewinn, und sie hat die Lacher auf ihrer Seite.
Dann aber kommt der Moment der Wahrheit. Die Jury, bestehend aus dem Performer Josef Nadj, dem Theaterintendanten Matthias Brenner, der Museumsdirektorin Eszter Fontana, dem Journalisten Thomas Hahn und dem Hotelchef Christian Syrotek, dessen Kette auch Sponsor ist, verkündet ihre Entscheidung.
Dritte wird Lotte Müller, die Tanz mit Zirkusakrobatik und einer großen Prise clownesker Komik verbindet. In ihrer Choreografie träumt sie sich durch die letzten Minuten vor dem Aufstehen. Der zweite Platz geht wie der Publikumspreis an In-Jung Jun. Gewinnerin ist Christine Borch, deren Tanz eingangs beschrieben wurde.
Das 10. deutsche Tanzsolo ist ausgetanzt, und auch das Hochhaus ist nur noch als dunkler Klotz sichtbar. Der Tisch wird nun wieder in seine sechs Teile zerlegt und eingelagert, bis in zwei Jahren zum 11. deutschen Tanzsolo aufgerufen wird.
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