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Archiv-Artikel

Tango in Seinäjoki

Von HH

Tango, eine Mischung aus Flamenco, Klezmer und der Musik von Farmarbeitern (Gauchos), war Ausdruck des Heimwehs europäischer Auswanderer in Argentinien – ein erotisierender Rhythmus, der in den Rotlichtvierteln von Buenos Aires beliebt war.

Die Finnen hörten 1913 erstmals vom Tango. Damals war das skandinavische Land geografisch wie kulturell isoliert und stand unter russischer Herrschaft. Der Tango, von den metropolen Finnen als revolutionär eingestuft, wurde Ausdruck des Strebens nach Unabhängigkeit und des Aufbegehrens gegen die russische Macht. Tanzschulen nahmen Tango in ihr Programm auf.

1929 erschien die erste finnische Tangoplatte, „La Copacita“. In den Dreißigerjahren wurde der Tango – ursprünglich auf Spanisch gesungen – mehr und mehr zum Teil der finnischen Alltagskultur, nunmehr auch in der Provinz: Texte wurden auf Finnisch verfasst, eigene Melodien komponiert. Tango war nicht länger eine Erscheinung der Boheme, sondern Teil der ohnehin melancholisch gestimmten finnischen Volksmusik.

Im Gegensatz zum – sowohl in der Sprache als auch im Tanz – häufig aggressiv wirkenden argentinischen Tango ist finnischer Tango langsamer, getragener und trauriger. Auch sind beim finnischen Tango, anders als beim argentinischen, die Texte ebenso wichtig wie die Musik.

In den Fünfzigerjahren avancierten Tangotanzveranstaltungen zu Ehevermittlungsbörsen. Damals lebte mehr als die Hälfte der finnischen Bevölkerung auf dem Land. Das änderte sich erst allmählich in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Bis dahin reisten kleine Orchester durchs Land und spielten an 250 Tagen im Jahr, um auch die Menschen in den entlegensten Gebieten zu erreichen.

Anders als in Argentinien empfanden es finnische Tangokomponisten nicht als anstößig, auch Volkslieder zu schreiben. In den Sechzigerjahren waren die Hälfte der in Finnland verkauften Tonträger Tangos, daran konnte auch die wachsende Beliebtheit der Beatles (und der Afroamerikanisierung der Popmusik) unter finnischen Jugendlichen nichts ändern.

In den Siebzigerjahren verzeichnete die Beliebtheit des finnischen Tangos erstmals jedoch einen Einbruch. Die Jugendlichen verehrten Disco und Rock. Finnische Tangohistoriker sprechen von der lost generation: Tango war ihr gleichgültig.

Eine Renaissance erfuhr der Tango erst vor gut zehn Jahren – als Begleitmusik zur ökonomischen Rezession. Wie schon in der Kriegs- und Nachkriegszeit suchten sich viele Finnen mit Tangoliedern zu trösten – zumal Arbeitslosigkeit in erster Linie gering qualifizierte Menschen betraf, also das gemeine Volk, welches gern auf die musikästhetischen Resultate vergangener Zeiten zurückgriff.

Sommers finden in Finnland Tangofestivals statt – der alljährliche Höhepunkt ist das Finale in Seinäjoki an der Westküste. Dort wird der Tango noch als das zelebriert, was er immer auch war: eine Musik der (kleinbürgerlichen) Provinz, die mit Multikulturalität nichts zu tun haben wollte.

Den finnischen Roma und Sinti sind die Cracks der finnischen Tangoszene: Viele von ihnen gewannen in den vergangenen achtzehn Jahren die finnischen Tangomeisterschaften. HH