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Taktik-Geplänkel zur WMDie Globalisierung des Spiels

Das Turnier wird auf taktischer Ebene entschieden, denn erstmals werden Formationen wild gemischt. Doch offen ist, ob Ball-Kontrolle, flinke Offensive oder die 5-Mann-Abwehr Erfolg haben werden.

Nordkoreas Jone Tae Se übt noch einmal Balltricks vor dem ersten Gruppenspiel. Bild: ap

Die Weltmeisterschaft 1990 in Italien weckt nicht in allen Ländern so freundliche Erinnerungen wie in Deutschland. Aus brasilianischer Sicht ist sie sogar ein besonders dunkles Kapitel, weil sie für Misserfolg und kulturelle Abirrung zugleich steht. Der ehemalige Nationaltrainer Mario Zagallo hatte seinem Nachfolger damals sogar vorgeworfen, er lasse "gegen die brasilianische Natur spielen". Denn Sebastiao Lazaroni bot einen Libero auf, wie das in Brasilien kaum ein Team tat, und ließ mit zwei Stürmern spielen. Er rief eine "Ära des Pragmatismus" aus, die allerdings ziemlich kurzlebig geriet. Brasilien schied bereits im Viertelfinale aus, ironischerweise im einzigen Spiel des Turniers, in dem die "Selecao" wirklich zauberte, aber von Argentinien schnöde ausgekontert wurde.

Die WM in Italien war die letzte, die noch den Charakter einer Messe des Weltfußballs hatte. Bis dahin war man alle vier Jahre zusammengekommen, um die in der Zwischenzeit entwickelten Ideen auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. 1958 etwa verblüfften die Brasilianer mit einem fließenden Wechsel zwischen Spielsystemen, 1966 gelang dem englischen Team der große Coup durch einen Verzicht auf klassische Flügelspieler, und 1974 schaffte Holland es mit seinem Entwurf des äußerst flexiblen Positionsspiels, genannt "totaler Fußball", bis ins Finale.

Vor Beginn des Informationszeitalters gelangen echte Überraschungseffekte. Bei einer Umfrage der Fifa nach der WM 1966 stellte sich heraus, dass einige Teams sich auf ihre Spiele noch durch Zeitungslektüre vorbereitet hatten. Heute hingegen treffen gläserne Gegner aufeinander, weil fast jedes Nationalteam eine Analyseabteilung unterhält, die alle Informationen beschafft. Außerdem kennt man sich aus dem europäischen Vereinsfußball. Bereits 1990 standen 12 der 22 brasilianischen Spieler in Europa unter Vertrag, diesmal sind es 20 von 23. Bei den afrikanischen Teams sieht das kaum anders aus, und längst hat das stille Verschwinden der Exoten stattgefunden. Als Marktplatz der taktischen Ideen und Fußball im High-End-Bereich ist die Weltmeisterschaft inzwischen von der Champions League abgelöst worden.

Echte Neuerungen werden wir in Südafrika daher kaum erleben, das Turnier 2010 ist in taktischen Fragen die erste postmoderne WM. Weil es vor allem bei den Spielsystemen keine Neuerungen mehr gibt, entsteht der besondere Reiz in der Kombination des Bestehenden. So werden wir eine so erstaunliche Fülle von Grundformationen erleben wie nie zuvor.

Die deutschen Gruppengegner Australien und Ghana etwa treten mit zwei defensiven Mittelfeldspielern und nur einer Spitze an, während Serbien zwei Angreifer aufbietet. Dänemark hingegen greift mit drei echten Stürmern an, England setzt auf einem Stoßstürmer, um den herum Wayne Rooney auf die Jagd gehen wird. Uruguay wird sich mit drei defensiven Mittelfeldspielern einmauern, und Neuseeland hat vorsichtshalber eine Fünferabwehrkette eingeübt. Nordkorea spielt ultradefensiv sogar mit einem Libero hinter der Viererabwehr, was inzwischen nicht einmal mehr Otto Rehhagel wagt.

Die Spielsysteme werden oft auch noch sehr unterschiedlich interpretiert. Es geht nicht mehr um Positionen auf dem Spielfeld, es geht um das Erfüllen von Rollen auf dem Platz. Doch während die Spielorganisation auf einer feinstofflichen Ebene angekommen ist, gibt es auch bei dieser WM eine große fußballkulturelle Debatte. Christofer Clemens, Spielanalytiker im Stab von Joachim Löw, hat es neulich auf den Begriff "Ballbesitz versus Geschwindigkeit" gebracht. Was damit gemeint ist, konnte man im Finale der Champions League sehen. Der FC Bayern setzte auf Ballbesitz, um erfolgreich vors Tor zu kommen, Inter Mailand auf extrem schnell gespielte Konterangriffe.

Bei der WM werden die beiden großen Favoriten aus Brasilien und Spanien auch die Antipoden sein. Brasiliens Nationaltrainer Dunga bietet setzt mit dem Ideengeber Kaka und den Stürmern Robinho und Luis Fabiano nur drei Offensivspieler auf, greift punktuell aber mit überragender Klasse an. Europameister Spanien hingegen will auch unter Trainer Vicente del Bosque den Ball haben, geduldig das "Tiki Taka" der langen Kombinationsketten aufziehen und seine spielerische Überlegenheit auf dem Platz durchsetzen.

In der Champions League hat sich mit Inter der Vertreter des schnellen Überfallspiels durchgesetzt, und bei der WM werden die meisten Team diesen Weg einschlagen. Das muss nicht notwendig unattraktiv sein, denn das Mailänder Beispiel hat gezeigt, dass es dabei nicht um eine sture Mauertaktik geht. Wer allein das versucht, wird vermutlich nicht lange im Turnier bleiben. Außerdem werden die Temperaturen im südafrikanischen Winter das Spieltempo kaum bremsen, sodass es keine Überraschung wäre, wenn es insgesamt ziemlich offensiv zuginge.

Doch was wirklich offensiv ist, darüber gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Brasilien etwa wird sich auch jetzt wieder an die Tage von Sebastiao Lazaroni erinnern, denn viele Fans vermissen spektakuläres "Jogo Bonito" von Dungas Team, während in Deutschland, England oder Italien niemand auf die Idee käme, solche Ansprüche zu stellen. Im Fall des brasilianischen Misserfolgs wird sich dann auch bestimmt jemand finden, der die Spielweise für gegen die brasilianische Natur gerichtet hält. Denn so einheitlich der Fußball geworden ist, die Sehnsüchte der Fans sind noch nicht globalisiert.

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