Tagesschau wird modernisiert: News für immer und überall
Die "Tagesschau" will mehr als eine Fernsehsendung sein. Weil sich dafür aber bei ARD-aktuell die Strukturen ändern, fragen sich einige Betroffene: Muss das wirklich sein?
HAMBURG taz | Noch zwei Minuten bis 20 Uhr. Vor den Fernsehgeräten haben sich schon Millionen versammelt. Die "Börse im Ersten" bringt ihnen bei, dass sich der DAX auf 6.034 Punkte hochgezogen hat. Im Haus 18 beim NDR in Lokstedt nimmt Sprecherin Susanne Daubner im Studio Platz. Was weder sie noch die Zuschauer wissen: Hinter den Kulissen knirscht es.
Kurz vor dem Gong liegt ausgerechnet der erste Beitrag des Abends noch in Stuttgart. Frank Jahn soll vom dortigen Dreikönigstreffen der FDP berichten, doch die Überspielung lässt auf sich warten. Es wird eng.
Stephan Ziegenhagen, Chef vom Dienst der "20 Uhr", springt aus seinem Drehstuhl. Die Zeigefinger auf die Schläfen gepresst, ruft er seinen Redakteuren zu: "Leute, kommt mal schnell her und überlegt, was wir jetzt machen!" Ziegenhagen murmelt einen Moment etwas davon, wie die Sendung umzubauen sei, bis eine Minute und dreißig Sekunden vor acht der Beitrag doch noch einläuft. So spät, dass ihn der Verantwortliche nicht mehr sehen kann. Ziegenhagen muss dem Reporter blind vertrauen.
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Die Zentralredaktion ARD-aktuell, angesiedelt beim NDR in Hamburg, produziert inzwischen:
im Ersten: Regelsendungen um 14, 15, 16, 17 und 20 Uhr sowie "Tagesthemen" und "Nachtmagazin" sowie in jeder zweiten Woche abwechselnd mit dem ZDF Nachrichtenblöcke im "Morgenmagazin" und "Mittagsmagazin"
im Digitalen: auf dem Infokanal EinsExtra werktäglich zwischen 9 und 20 Uhr jede Viertelstunde
eine neue "Tagesschau"
im Netz: neben einzelnen Beiträgen die jederzeit verfügbare "Tagesschau 24", die auch auf Hybridfernsehern abrufbar ist
im Mobilen: die Kurznachrichten "Tagesschau in 100 Sekunden"
Geplant ist: eine eigene iPhone-"App". Außerdem soll die Sendezeit der "Tagesschau" auf EinsExtra ausgeweitet werden.
Eine Redakteurin wird nach der Sendung sagen, Jahn habe sich telefonisch entschuldigt und erklärt, der SWR habe einem Sportbeitrag fürs Dritte Vorrang vor der "20 Uhr" gewährt.
Ein Problem, das sie hier kennen. Immer wieder grenzen die Landessender die "Tageschau" aus. Um bei der FDP zu bleiben: Nachdem sich im Sommer 2003 Jürgen Möllemann in den Tod gestürzt hatte, stand zwar ein ARD-Mitarbeiter mit aufgebauter Satellitenleitung an der Unglücksstelle, doch Hamburg durfte ihn nicht schalten. Der Reporter war fürs Dritte reserviert.
Die Sendungen im Ersten sind ohnehin nicht mehr das ganze Geschäft. Die "Tagesschau" will nicht mehr bloß eine Sendung sein, sondern eine Medienmarke mit möglichst viel Präsenz.
Wer wissen will, wie der Plan dahinter aussieht, muss sich nur mal in das Büro von Georg Grommes verirren. Der leitet das Team "Strategie und Innovation". An den Wänden hängen Plasmafernseher. In der Ecke stehen Zusatzgeräte aller Art, darunter auch die Spielkonsole Wii. Auf ihr ist Reuters mit einem Newskanal vertreten, nicht aber die ARD. An Schränken hängen zudem Entwürfe des Schriftzugs "Tagesschau 24", vor allem aber fällt eine Zeitungsanzeige auf.
Auf ihr wirbt Apple für sein iPhone und listet Miniprogramme (Apps) auf. Grommes hat mit einem gelben Marker die einzige vertretene Nachrichten-App markiert. Sie stammt von N24. Das Signal ist klar: Hier hätte die "Tagesschau" auftauchen sollen. Sie hat diese Entwicklung aber lange verpennt. Erst in diesem Frühjahr will sie nachziehen.
"Wir wollen auch Menschen ansprechen, die in einer Welt leben, in der der 20-Uhr-Zeitpunkt womöglich nicht mehr Dreh- und Angelpunkt ihrer Mediennutzung ist", sagt Grommes. Dafür hat er in den vergangenen Jahren auch einen Newskanal aufgezogen. EinsExtra präsentiert im digitalen Kabel- und Satellitennetz "Tagesschau-Nachrichten im Viertelstundentakt".
Dieser Sender steht wie kein anderes Produkt der Nachrichtenfabrik für die neu angebrochene Zeit. Alles, was die Redakteure für die Sendungen im Ersten bei den neun Landessendern bestellen, landet in einem riesigen Zentralspeicher. Die, die für den Kanal produzieren, zapfen dort Beiträge ab - und aktualisieren sie gelegentlich selbst. Dazu kommen Schaltgespräche mit Experten und Reportern.
Ob das wirklich jeder braucht, ist freilich zweifelhaft. Kai Gniffke, Chef der "Tagesschau", sagt jedenfalls, er sei "davon überzeugt, dass der publizistische Mehrwert dieses Angebots den vergleichsweise geringen Aufwand mehr als rechtfertigt". Zu sehen ist das nur werktags zwischen 9 und 20 Uhr. Gniffke aber will die Sendezeit noch 2010 ausweiten - auch ins Wochenende hinein.
Damit das klappt, bauen Gniffke und Grommes seit Jahren die Strukturen um. Längst arbeitet in Hamburg niemand mehr mit Kassetten. Heute läuft alles digital. In jeder Schicht ist zudem ein Redakteur abgestellt, um die aktuellen Beiträge als sogenannte Segmente im System zu hinterlegen. Die können im Kanal ebenso fast automatisiert versendet werden wie auch im Netz. Wie weit das geht, kann beobachten, wer einen Hybridfernseher benutzt, der mit dem Internet verbunden ist. Auf diesen Geräten lassen sich neben TV-Programmen auch Formate wie "Tagesschau 24" abrufen.
"Tagesschau 24" ist eine zu jeder Zeit startbare Sendung, die auf den jeweils aktuellsten Segmenten basiert. Weil die Moderationen teilweise noch aus unterschiedlichen Ausgaben herausgeschnitten werden, sieht das noch holprig aus. Das soll sich aber ändern. Die "ewige ,Tagesschau' ", wie sie Gniffke nennt, zählt übrigens bereits mehr als drei Millionen Abrufe im Monat. Sie wartet auch auf tagesschau.de auf Zuschauer.
Einige Redakteure befürchten angesichts dieser Entwicklungen, dass die "Tagesschau" von einem einst herausragenden Format zu einer Massenware verkommt. Sie sehen auch kritisch, dass ARD-aktuell von diesem Montag an nicht mehr sendungs-, sondern themenbezogen arbeiten soll. Dann sitzen nicht mehr nur Redakteure zusammen, die Ausgaben für das Erste planen, sondern je zwei von ihnen mit einem Newskanal- und einem Onlineredakteur.
Was zunächst als vierwöchiger Test angelegt ist, hat Vorteile. Wo bisher für jede Sendung einzelne Redakteure abgeschottet vom Rest der Mannschaft werkelten, sollen sie sich fortan per Zuruf mit den Kollegen abstimmen, die für die anderen Produkte der Marke "Tagesschau" arbeiten. So soll vor allem vermieden werden, dass gleich mehrere Redakteure ein und denselben Korrespondenten um Berichte und Schaltgespräche bitten.
Dieses Chaos trieb Einzelne zuletzt in den Wahnsinn. Erst im Herbst kritisierte Thomas Morawski vom Wiener ARD-Büro die "Verspartung" der Berichterstattung und maulte: "Da kommt man gar nicht mehr dazu, das Mikrofon aus der Hand zu legen und selbst zu recherchieren." EinsExtra schloss er in seine Kritik namentlich ein.
Während die geplante Umstrukturierung vielen sinnvoll erscheint, sind auch Skeptiker unterwegs. Nicht viele trauen sich, offen zu reden. Zu groß ist die Angst, als Nörgler aufzufallen. Ziegenhagen aber ist mutig. Die Transformation, sagt er, sei nötig, um "überlebensfähig" zu sein. Er fordert aber auch "großzügigen Freiraum" für die 20-Uhr-Ausgabe: "Sie war bisher nicht Teil einer Fließbandproduktion und sollte es auch nie werden."
Gniffke nimmt den Bedenkenträgern vorläufig den Wind aus den Segeln - und klammert die "20 Uhr" von dem Feldversuch aus. Zu dem Modell will er sich nicht äußern, erst den Test abwarten. Zur "20 Uhr", die als einzige deutsche Nachrichtensendung nicht moderiert wird, sagt Gniffke: "Der ,Mythos 20 Uhr', der vor allem mit dem Lesen der Meldungen vom Blatt zu tun hat, lebt - und ich will alles dafür tun, dass dies so lange wie möglich so bleibt."
Deshalb nimmt Gniffke die Hauptausgabe mit oft mehr als zehn Millionen Zuschauern auch von einem anderen Projekt aus: der Planung seines neuen Studios, mit dem man technisch zu RTL und ZDF aufschließen will. Von 2012 an sollen "Tagesschau"-Moderatoren sowohl auf ihrem Tisch als auch im Studiohintergrund Dinge mit ihren Fingern steuern können. Nur in der "20 Uhr" sollen interaktive und 3-D-Elemente weiterhin tabu sein.
Auch das Studio spaltet. Claus-Erich Boetzkes, der die Nachmittagsausgaben der "Tagesschau" moderiert, ist für Interaktivität. Er erinnert sich an 2004, als im russischen Beslan Terroristen mehr als eintausend Geiseln nahmen. "Damals gab es keine brauchbaren Bilder, weil die Teams nicht dicht genug an das Geschehen rankamen", sagt Boetzkes. Aus Berichten von Augenzeugen und Polizei habe man allerdings gewusst, wie die Lage vor Ort aussah. "Daraus hätte ein Modell entwickelt werden können, an dem ein Moderator die Lage hätte erklären können."
Solche Momente gebe es zwar nicht häufig, sagt Boetzkes - "aber wenn, dann ist diese Technik optimal, um dem Zuschauer Dinge nahezubringen, die bisher nur schwer zu erklären waren." Und wieder gibt der Chef vom Dienst der biedereren Hauptausgabe den Kritiker. "Man muss doch nicht immer alles machen, was technisch möglich ist", sagt Ziegenhagen: "Tun es nicht auch solide Nachrichtenfilme?"
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