TAZ-ADVENTSKALENDER: ALT-MOABIT 24 : So viel Ruhe
24. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen
Vor dem Eingang zu St. Johannis wird gerade der Straßenbelag erneuert. Der Chef brüllt zwei Arbeiter in neongelben Westen zusammen: „Haick doch jesacht! Hier nich die Füße! Los, dalli jetze, da, da und da!“ Er meint nicht die Füße der Männer, sondern diese klobigen schwarzen Trapeze aus Hartgummi, in denen die Umleitungsschilder stecken. Der Tag ist dunkel, und es nieselt.
Hinter den backsteinernen Arkaden der kleinen Schinkelkirche in Alt-Moabit wird es ruhiger. Ein Mann im grauen Overall recht nasses Laub. Der winzige Friedhof, unser letztes Ziel in dieser Serie, teilt sich mit dem Küsterhäuschen die Nummer 24. Es ist eine der kleinsten Begräbnisstätten Berlins, gerade mal 3.000 Quadratmeter, weniger als ein halbes Fußballfeld, wobei hier natürlich auch kein Fußball gespielt wird.
Genau genommen geschieht hier überhaupt nichts. Die Toten sind tot, und die Lebenden haben Besseres zu tun, als über die moosige Wiese zu stolpern. Was die historischen Gräber angeht, schwarzer Marmor hinter rostzerfressenen Zäunen, gibt es vielleicht gar keinen mehr, der sich kümmern könnte. Sonst klebten nicht überall kleine Zettel dran: „Unfallgefahr! Grabstein lose! Nutzungsberechtigter haftet bei Unfallschaden.“
Es sind nur ein paar Dutzend Stelen und Kreuze, die unter Eichen und Robinien aus dem Boden staken. Superintendent Hellmut Hitzigrath liegt hier, Fuhrherr Otto Ross und Engros-Fleischermeister Otto Günther. Am größten und besonders windschief ist das Familienbegräbnis Gericke. Nach Wilhelm Gericke (1838–1926), Kaufmann und Stadtverordneter, angeblich mal als „König von Moabit“ bekannt, heißt heute noch eine Fußgängerbrücke über die nahe Spree.
Nur in der allerhintersten Ecke, an der Mauer zum Grundstück der Berliner Verwaltungsakadamie, liegen ein paar Gräber, um die sich jemand hingebungsvoll kümmert. Darunter das des Filmjournalisten Ron Holloway. Der US-Amerikaner lebte seit den 70ern in Deutschland, saß in Berlinale-Gremien und gab mit seiner Frau eine englischsprachige Zeitschrift über den deutschen Film heraus. Kurz vor Weihnachten 2009 starb er, sein Grabstein hat die Form eines Stapels Filmrollen.
Aufbruch? Nur ein letzter Blick über die andere Mauer da. Noch ein Friedhof. Aber ein ganz anderer: Hier liegen Tote aus den letzten Kriegstagen. 300 Menschen in Gemeinschaftsgräbern, „sie starben bei Kampfhandlungen, im Luftschutzkeller, beim Beschaffen des Lebensnotwendigen, durch Genickschuss oder begingen Selbstmord“, heißt es auf der Bronzetafel am Eingang. Auf den Steintafeln am Ende jeder Grabzeile stehen viele Namen und darunter noch Sätze wie „Ein Mädchen und dreizehn Männer blieben unbekannt“.
Auf der zentralen Stele sind die Kriegsjahre abgebildet: 1939. 1940. 1941. 1942. 1943. 1944. 1945. Obendrauf thront ein Kreuz, aus dessen Fuß eigenartige Zacken wachsen. Es sieht aus wie eine tödliche Spinne, die auf neue Opfer lauert. Passt doch irgendwie in diese Zeit. Frohe Weihnachten.
CLAUDIUS PRÖSSER