Susanne Messmer lässt sich Märchen erzählen: Die Königin der Kesselflicker im Parlament
Kinder brauchen Märchen, das wusste schon der amerikanisch-österreichische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in den 1970er Jahren. Darum ist es so löblich, dass sich nun schon zum wiederholten Mal Landespolitiker an den Berliner Märchentagen, die derzeit zum 27. Mal stattfinden, beteiligen.
Zwei Schulklassen sind gekommen, um an diesem unwirtlichen Novembermontag Susanne Kitschun von der SPD zuzuhören, die für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Parlament sitzt. Sie sind ein wenig zappelig, die SchülerInnen, die es sich in der Wandelhalle im Abgeordnetenhaus auf Sitzkissen bequem gemacht haben, hören aber alles in allem ganz gut zu.
Denn Kitschun liest lebendig, sie übersetzt vieles in aktuelle Sprache, was ein wenig altbacken daherkommt – Formulierungen wie „lass Not und Elend sein“. Doch Märchen, so verstehen offenbar selbst die unruhigsten Kinder unter den etwa zehn Jahre alten ZuhörerInnen: Märchen haben ungeheure Energie. Je blutiger sie sind, desto plastischer bringen sie die schlimmsten Alpträume auf den Tisch und helfen, sie zu bewältigen.
Astreine Emanzipation
„Ich denke, die Kinder haben was mitgenommen“, sagt später die Klassenlehrerin, die auch erzählt, es seien schwierige Kandidaten dabei in ihrer Klasse aus dem Märkischen Viertel – ja, sie habe sogar einigen privat die Klassenfahrt gezahlt, damit sie nicht zu Hause bleiben müssen.
Susanne Kitschun hat sich an diesem Morgen für zwei Märchen entschieden, die nichts weniger sind als astreine Emanzipationsgeschichten: „Die kluge Bauerntochter“ und „Die Königin der Kesselflicker“. In beiden Märchen geht es um junge Frauen, die sich durchsetzen: Die erste erhebt sich allein durch ihren Scharfsinn in den Rang einer Königin, die zweite setzt durch, einen Mann ihrer Wahl zu heiraten.
Am Ende des zweiten Märchens wird es ganz still in der Halle. Die Königin der Kesselflicker wollte den Prinzen nicht, weil sie ihn nicht kannte, sondern erwählte den bettelarmen Kesselflicker zum Mann. Am Ende stellt sich heraus, dass ebenjener der verkleidete Prinz ist. Kitschun hält inne und fragt die SchülerInnen, was passiert ist. Ein Mädchen mit kugelrunden Augen sagt lachend: „Der hat sie reingelegt!“ So wird man Zeuge, wie sich der Alptraum einer Zwangsehe, wie ihn heute viele Mädchen in Berlin nach wie vor träumen mögen, dank eines uralten Märchens als bezwingbar erweist.
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