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■ Südafrika und die Aufarbeitung der VergangenheitVerpflichtung zur Wiedergutmachung

Was macht die Debatten um die Wahrheits-Kommission zur Wirklichkeit? Menschen, wirkliche Menschen, die menschliche Geschichten zu erzählen haben. Zum Beispiel die von Asaph Dikgale. Heute arbeitet er in der Telefonzentrale der Union Buildings [Regierungsgebäude in Pretoria; Anm. d. Red.]. Er verlor 1977 in Soweto als 21jähriger sein Augenlicht, als ein Polizist, der ihn angesprochen hatte, ihm aus unmittelbarer Nähe einen Tränengaskanister ins Gesicht schleuderte. Zum Glück ist die Zeit vorbei, in der Blindheit Menschen vollkommen hilflos machte. Heute hat Asaph Dikgale eine wichtige Arbeit.

Meines Erachtens bedeutet Gerechtigkeit aber mehr als das. Er sollte auf irgendeine Art und Weise dafür entschädigt werden, daß er durch einen Staatsangestellten sein Augenlicht verlor. Blind zu sein ist ein großes Handikap, und wir wissen, daß im „Gesetz für Wahrheit und Versöhnung“ Kompensation für die Opfer der Apartheid vorgesehen ist. Mit dem Gesetz werden drei Komitees eingerichtet, darunter auch ein „Komitee für Wiedergutmachung und Rehabilitierung“. In Südafrika sind wir nicht vertraut mit solchen Restitutionsgesetzen, deshalb möchte ich gerne eine persönliche Geschichte erzählen.

Am 27. Juni 1958 bekam ich von der westdeutschen Regierung einen Bescheid über 7.158 Rand [damals etwa 40.000 Mark; Anm. d. Red.]. Das Geld war eigentlich für meine Mutter vorgesehen, aber sie war 67jährig im November 1956 verstorben. So erbte ich das Geld. Das meiste davon nutzten wir dazu, die Schulden für unser Haus zu reduzieren. Ich war damals ein junger Lehrer, verheiratet, mit drei kleinen Kindern, und das besserte unser Budget etwas auf – aber wir hätten es lieber gesehen, daß meine Mutter es noch zu ihren Lebzeiten erhalten hätte. Es konnte nicht für ihre „Verluste“ entschädigen oder etwas „wiedergutmachen“. Aber es hätte ihr geholfen, nach Übersee zu fliegen oder Dinge zu kaufen, die sie sich als Witwe nicht leisten konnte.

In Deutschland war sie 21 Jahre lang Zahnärztin gewesen, und zuletzt arbeitete sie an der Städtischen Zahnklinik in Wuppertal. Wie alle jüdischen Ärzte und Zahnärzte im öffentlichen Dienst wurde sie im April 1933 entlassen. Als wir im Jahr 1937 nach Südafrika kamen, mußte sie feststellen, daß sie mehrere Jahre lang zusätzlich hätte studieren müssen, damit ihre deutschen Zeugnisse hier anerkannt würden. Das Geld dafür hatten wir nicht; so arbeitete sie elf Jahre lang als Maschinistin in einer Kleiderfabrik.

Es ist allgemein bekannt, daß die erste westdeutsche Regierung im Jahr 1953 Restitutionsgesetze erlassen hatte, die versuchten, die Opfer von Naziverfolgung wenigstens in gewisser Weise zu entschädigen. Über die Jahrzehnte hinweg hat Deutschland viele Millionen für Reparationen ausgegeben. Niemand gibt vor, daß Geld das wiedergutmachen kann, was von den Nazis getan wurde, aber tatsächlich hat solches Geld auch vielen Opfern geholfen. Etwas Unterstützung ging in den frühen Jahren auch an den Staat Israel, um wiedergutzumachen, daß so viele gestorben waren, ohne Verwandte zu hinterlassen. Zu dieser Zeit gab es eine heftige Debatte in Israel, weil viele Staatsbürger, vor allem Holocaust-Überlebende, dagegen protestierten, daß Israel „beflecktes“ Geld annahm. Aber die Wiedergutmachung hat das Leben von vielen tausend ehemaligen Deutschen einfacher gemacht, von denen die meisten Juden waren.

Was an dieser Diskussion wichtig und relevant ist, ist die Tatsache, daß dieses Unterfangen von der Nachkriegsregierung vorgenommen wurde, die selbst keine Nazigesetze erlassen oder ausgeführt hatte: Sie machte wieder gut, was ihre Vorgänger getan hatten. Allerdings müssen viele der Steuerzahler nach 1945 Menschen gewesen sein, die in die Nazizeit tief verstrickt waren. Einige von ihnen haben die Wiedergutmachung bestimmt nicht gutgeheißen.

So ähnlich wie in Deutschland ist es auch jetzt in Südafrika. Es kann keine Unterscheidung geben zwischen Steuerzahlern, die persönlich die Apartheid unterstüzt haben, und solchen, die es nicht taten. Eine Gesellschaft muß als Ganze die Bürden der Vergangenheit tragen und akzeptieren, daß diejenigen, die Verluste erlitten haben, Beachtung von einer humaneren „Nachfolgegesellschaft“ verdienen. Der Verlust eines geliebten Menschen oder eines Auges oder von Land kann nicht wirklich „wiedergutgemacht“ werden. Alles, was getan werden kann, ist das, was das Leben für die Opfer ein wenig einfacher macht als das Leben ohne Entschädigung.

In unserer Situation ist vollkommen klar, daß der Staat nicht alle Schwarzen etwa für den Schaden entschädigen kann, den sie dadurch erlitten haben, daß sie einem schlechten Bildungssystem unterworfen waren. Genausowenig können wir Menschen für die Erniedrigungen entschädigen, die sie wegen des gesamten Systems rassischer Diskriminierung erlitten haben. Unsere Bemühungen werden auf den Rahmen beschränkt bleiben, den das „Gesetz für Wahrheit und Versöhnung“ vorgibt.

Obwohl diese Einschränkung bedauerlich ist, ist sie unter diesen Umständen unvermeidbar. Das Gesetz bezieht sich auf Verluste, die als „Ergebnis jeglicher groben Menschenrechtsverletzung innerhalb oder außerhalb der Republik zwischen dem 1. März 1960 und dem 5. Dezember 1993“ erlitten wurden. Indem der Staat Wiedergutmachung möglich macht, akzeptiert er im Namen der gesamten südafrikanischen Gesellschaft, daß die begangenen groben Menschenrechtsverletzungen moralisch falsch waren und daß unsere neue Gesellschaft alle Anstrengungen unternehmen muß, um das möglichst wiedergutzumachen.

Wie die meisten Bürger dieses Landes habe ich keinerlei Probleme damit. Aber es gibt auch hier Leute, die sagen: „Das, was wir getan haben, war nur unsere Pflicht.“ Einige von ihnen werden die Verfahren ablehnen, in denen es darum geht, die menschliche und staatsbürgerliche Würde der Opfer wiederherzustellen. Die gleiche ablehnende Haltung könnte es unter Steuerzahlern geben, die sagen: „Wir waren an keinerlei Menschenrechtsverletzung beteiligt. Warum müssen wir jetzt dafür bezahlen?“ Es ist sehr wichtig, daß die Mehrheit der Südafrikaner offen akzeptiert, daß dieser Prozeß moralisch notwendig und gerecht ist, und daß sie ihn unterstützen. Wie das Beispiel Nachkriegsdeutschland zeigt, ist so etwas auch schon vorher gemacht worden. Wir folgen einem weltweiten Trend, wenn wir die Verantwortung für unsere Vergangenheit akzeptieren. Der Prozeß wird helfen, einige der Wunden zu heilen, die von einem monströsen System zugefügt worden sind, und Südafrikas moralisches Ansehen in der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen. Franz Auerbach

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