"Stuttgart 21" ohne Bürgerentscheid: Genossen an der Bahnsteigkante

Stuttgarters Gemeinderat hat beschlossen, für das Infrastrukturprojekt "Stuttgart 21" keinen Bürgerentscheid zuzulassen. Zwei SPDler hat das Projekt hat zu Gegnern gemacht.

Verkehrssegen oder Millardengrab? Der Entwurf für Deutschlands größtes Infrastrukturprojekt. Bild: dpa

Einmal, vor acht Jahren war das, beging der unbescholtene Stuttgarter Lokalpolitiker Rainer Kußmaul eine freche Sachbeschädigung. In Berlin, fern der schwäbischen Heimat, kraxelte der damals 58-Jährige an einem Großplakat der Deutschen Bahn AG hoch. Auf der Werbefläche, aufgehängt am S-Bahnhof Lehrter Stadtbahnhof, war ein riesiger Maulwurf zu sehen, der im Dress der Fußballnationalelf einen Fallrückzieher wagte, darüber stand der Spruch: "Damit Berlin verkehrstechnisch nicht ins Abseits gerät, machen wir auf keinen Fall einen Rückzieher." Der Mathematikprofessor Kussmaul nahm einen dicken Filzstift, strich "Berlin" durch und schrieb "Stuttgart" darüber. Heute steht an dieser Stelle der Berliner Hauptbahnhof.

Das Ganze war, wenn man so will, eine prophetische, nachgerade staatstragende Tat - sie illustriert, was passiert, wenn es den Schwaben richtig ernst ist mit einer Sache. Dann nämlich werden die braven Bürger frech, wenn nicht gar laut. "Stuttgart 21" ist eine solche Sache.

Hinter dem harmlosen Namen verbirgt sich das wohl maßloseste, teuerste und sicherlich umstrittenste Infrastrukturprojekt Deutschlands. "Stuttgart 21" wird bald die größte Baustelle Europas sein - dafür wurden am Donnerstagabend im Stuttgarter Rathaus die Weichen gestellt. Mit Hilfe des SPD-Mitglieds Rainer Kußmaul.

Kern des seit zwölf Jahren umkämpften Projekts ist der Stuttgarter Hauptbahnhof. Der Kopfbahnhof, in dem derzeit 16 Gleise enden, soll zu einem unterirdischen Durchfahrtsbahnhof mit 8 Gleisen umgebaut werden, deren Richtung um neunzig Grad gedreht wurde. Die Vorteile liegen, zumindest nach Ansicht der Bauherren Bahn und Bund, auf der Hand: kürzere Reisezeiten, weil die Fahrtrichtungsänderung entfällt; höhere Kapazität, weil sich die Züge bei der Ein- und Ausfahrt nicht mehr in die Quere kommen. Vor allem aber wird eine kostbare Fläche von hundert Hektar frei, mitten in der boomenden Stuttgarter Innenstadt. Und zwar dort, wo seit hundert Jahren, wie Kussmaul es ausdrückt, nur "Schienenschrott" liegt: im Wirrwarr des immensen Gleisnetzes zum Bahnhof.

Natürlich gibt es auch Nachteile. Der wichtigste sind die immensen Kosten. Der Spaß soll 2,8 Milliarden Euro kosten. Rechnet man, wie die Bahn, eine daran gekoppelte Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm hinzu, ist man schon bei 4,8 Milliarden. Und das ist noch vorsichtig geschätzt. Vor einem Jahr meldeten die Presseagenturen, der Umbau des Bahnhofs und der Anschluss an die Neubaustrecke könnten um 1 weitere Milliarde teurer werden. Im Mai dieses Jahres räumten auch die Bauherren diese Summe ein.

Kußmaul beeindrucken diese Zahlen nicht allzu sehr. Im Turm des Hauptbahnhofs, wo die Bahn auf drei Etagen eine Ausstellung zu "Stuttgart 21" aufgebaut hat, läuft der 66-Jährige euphorisch über einen von unten erleuchteten zimmergroßen Stadtplan und erläutert mit gelegentlichem Stampfen an geeigneter Stelle das Projekt. Das Ganze erinnert an einen Tanz.

"Spannend wie ein Krimi" sei es gewesen, das Projekt wachsen zu sehen, es mit zu gestalten und auch dafür zu werben, sagt Kußmaul, der länger im Stadtparlament sitzt als jedes andere Mitglied des Gemeinderates. Von der Aussichtsplattform des Bahnhofs aus zeigt er an diesem sonnigen Donnerstag mit ausladenden Gesten, wo künftig neue Tunnel die Hügel um die Innenstadt durchstoßen werden, wo entlang der Aushub mit mehr als zweieinhalbtausend Lkw-Fahrten pro Tag weggeschafft werden soll und wo die "Glubschaugen", riesige Fenster in der Decke des unterirdischen Bahnhofs, an die Oberfläche treten sollen. Vor hundert Jahren habe der württembergische König sich für den Kopfbahnhof mit den Worten ausgesprochen: "Bei uns komme se eh alle an", erzählt Kußmaul. Heute wollen er und die anderen "Stuttgart 21"-Verfechter einen durchlässigen Bahnhof, zum Ankommen und zum Bleiben.

Im Fahrstuhl hinab in die Haupthalle kommt Kußmaul kurz mit ein paar Männern ins Gespräch. Sie sind unterwegs in die Ausstellung, reden über die Untertunnelung einer sechsspurigen Straße in der Landeshauptstadt, 70 Millionen soll das kosten. "Des is auch son Quatsch", sagt einer der Bürger.

Unter der Informationstafel in der Halle trifft Kußmaul auf Peter Conradi. 26 Jahre saß der im Bundestag, wie Kußmaul ist er seit Jahrzehnten SPD-Mitglied. Aber in der "Stuttgart 21"-Sache ist er dessen Gegner. Die Begrüßung zwischen Rainer und Peter, die einst im gleichen Ortsverein waren und sich seit 40 Jahren duzen, ist eher steif. Der Fotograf macht ein paar Fotos der beiden Genossen auf Gleis 11, er bittet sie, sich dabei zu unterhalten. "Das ist also der Mathematik-Professor, der glaubt, 8 seien mehr als 16", stichelt Conradi in Anspielung auf die Zahl der Gleise. Kußmaul lacht gequält.

Sie reden über die Sitzung des Gemeinderats am Abend. Die Grünen haben zusammen mit Umweltverbänden 62.000 Stimmen gegen "Stuttgart 21" gesammelt. Heute wollen sie im Stadtparlament entweder den Beschluss für einen Bürgerentscheid zum Projekt durchsetzen - oder es wird per Abstimmung gleich ganz gestoppt. Conradi aber sagt, er werde sich den Showdown im Rathaus nicht anschauen. Kußmaul ist überrascht: "Gehst du da nicht hin?" Nein, meint Conradi, "beim Spießrutenlaufen bin ich nicht dabei". Schon zuvor hatte er erklärt, das Ganze erinnere ihn zu sehr an 1933, als SA-Staffeln kurz vor der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz vor dem Reichstag Parlamentarier drangsaliert haben.

So schlimm ist die Stimmung vor dem Sitzungssaal des Gemeinderats natürlich nicht. Aber es ist mächtig was los. Dutzende biedere Stuttgarter drängeln sich vor den Türen. "Bürgerentscheid! Bürgerentscheid!", rufen sie in Sprechchören, sie halten Plakate hoch. "Wir fühlen uns verar", steht verschämt auf einem. Die Gemeinderatsmitglieder haben Schwierigkeiten, sich durch die Menge zu drängen. "Es waren immer die Politiker, die Stuttgart kaputt gemacht haben", ruft jemand aufgebracht.

Im Saal stehen junge Aktivisten vor der Sitzbank der Stadtregierung, sie halten ihnen drei große Transparente entgegen: "Bürger" "entscheiden" "jetzt". Die Mikrofone sind abgestellt, deshalb brüllt ein Jugendlicher in die Runde: "Sie sind Vorbilder unserer Demokratie. Werden Sie sich dessen bewusst!" Die Junge Union hat auch Transparente vorbereitet. Auf einem steht: "Stuttgart 21. Jetzt keine weitere Zeit vergeuden." Von der Empore herunter hängt das Spruchband "Handwerk Pro Stuttgart 21".

Die Sitzung beginnt. Oberbürgermeister Wolfgang Schuster erklärt, warum er dem Antrag für einen Volksentscheid zu "Stuttgart 21" rein rechtlich gar nicht zustimmen dürfe. Allerdings hatte der CDU-Politiker versprochen, einen zu ermöglichen, als er im Kommunalwahlkampf 2004 kurz mit einer schwarz-grünen Koalition geliebäugelt hatte. Schuster hat sich den Vertreter einer angesehenen Anwaltskanzlei mitgebracht, der seine Sicht bestätigt: Die Gemeindeordnung lasse einen Bürgerentscheid in dieser Sache nicht zu. Ähnlich argumentieren zwei Stunden lang die Fraktionschefs von CDU, SPD, FDP und Freien Wählern.

Es wird gebuht im Saal. Nach der Rede des SPD-Mannes gibt es Sprechchöre: "Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten!" Vor den Türen hört man immer wieder: "Wir sind das Volk!" Die Redner der Grünen und der "Republikaner", der Linkspartei und der SÖS - "Stuttgart Ökologisch Sozial" - prallen mit ihren Argumenten ab. Der Bürgerentscheid wird abgelehnt, mit 45 gegen 15 Stimmen. Der Antrag der Grünen, der Oberbürgermeister möge mit den Vertragspartnern einen Ausstieg aus "Stuttgart 21" verhandeln, wird mit gleicher Mehrheit von der Tagesordnung gestrichen.

Frustriert ziehen die Demonstranten ab. Vor dem Rathaus flanieren tausende Weihnachtsmarktbesucher. Auf dem festlich erleuchteten Platz ist der Glühwein offenbar wichtiger als die Zukunft der Stadt.

Zum Wein in seiner prächtigen Wohnung auf einem Hügel über der Innenstadt lädt anschließend auch Conradi. Die Aufregung und der Lärm sind jetzt weit weg. Der 75-Jährige ist wie angekündigt zu Hause geblieben. Er hat alles gesagt.

Lachend sagt Conradi: "Ich bin befangen, hochgradig befangen." Tatsächlich. Sein Vater Helmuth war schon Architekt, ein Schüler von Paul Bonatz, der den jetzigen Bahnhof ab 1912 gebaut hat. Dieses Projekt übrigens trug den seltsamen Titel "umbilicus sueviae", der Nabel Schwabens. Drei Jahrzehnte später schließlich war es Helmuth Conradi, der den kriegszerstörten Bahnhof wieder aufgebaut hat.

Peter Conradi ist müde: "Wir haben gestritten wie die Blöden", sagt er, "wir können nach zwölf Jahren unsere Argumente nicht mehr hören, auch nicht mehr die Lügen." Conradi war jahrzehntelang ein Solitär im deutschen Politikbetrieb, einer, der die großen Baudebatten der Bonner und Berliner Republik entscheidend mit gestaltet hat, zuletzt bei der Umgestaltung des Reichstages und in der Debatte um das Berliner Stadtschloss. Dessen Wiederaufbau lehnt er ab.

Zuvor hatte er 1974 versucht, gegen Manfred Rommel das Stuttgarter Rathaus zu erobern. Genau 33-mal lieferten sich Conradi und Rommel öffentliche Debatten - doch Conradi kam gegen den cleveren CDU-Mann nicht an. "Des weiß i net, fragen Se den Conradi, der weiß alles", hat Rommel gern gesagt. Nicht lange, und Conradi hatte den Ruf eines Besserwissers weg. Er ist ihn nie mehr losgeworden. Rommel übrigens war schon immer für "Stuttgart 21".

Die Zahlen zu den Kosten des Projekts, sagt Conradi beim zweiten Glas Wein, seien "nach unten runtergefälscht", die Gutachter der Gegenseite "von der Bahn bezahlte Professoren". Er zitiert Heine: "Vaterland, du bist verloren - Professoren, Professoren." 1 Milliarde Euro für Baurisiken, "das wird nicht reichen", sagt er, denn für "Stuttgart 21" müssten 33 Kilometer Tunnel gebaut werden und noch der unterirdische Bahnhof. Derlei Miseren kenne er aus Berlin, vom Reichstag und vom Tiergartentunnel: "Unter der Erde ist immer scheiße." Kann er sich gar nicht vorstellen, den neuen, flotten Bahnhof irgendwann mal zu mögen, wenn er denn gebaut ist? "Kann sein", räumt Conradi nach einer kurzen Pause ein, "man gewöhnt sich eben." Und dann zitiert er noch den Stuttgarter Hegel: "dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist". Der Satz steht in Leuchtschrift am Bahnhof. Man sieht sie kaum.

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