■ Stunde Null (2): Genosse Ehrenburg vereinfacht
Was bisher geschah: Seit 15. Mai 1945 erscheint in Berlin die Tägliche Rundschau. Herausgeber der Zeitung ist die Rote Armee, Adressaten sind die Einwohner der seit zwei Wochen besetzten Reichshauptstadt. Die Leser, die bereits erfahren haben, daß auch die „Aussaat der Sonnenblumen und Zuckerrüben“ in der Sowjetunion „erfolgreich“ vor sich geht, werden in der zweiten Ausgabe der Täglichen Rundschau durch das große Konterfei eines russisch-orthodoxen Priesters überrascht. Es ist Alexi, der Patriarch von Moskau und ganz Rußland, der „alle rechtgläubigen russischen Christen“ aufruft, „in ihren Herzen und Dankgebeten aller unserer teuren Beschützer zu gedenken, die ihr Leben für uns, für das Glück, für die Freiheit und Ehre unserer Heimat gegeben haben, und vor allem stets Gott dankbar zu sein, daß er uns so weise Staatsmänner sandte und an die Spitze des Landes den von ihm erwählten genialen Führer Stalin gestellt hat.“
Eine Aufforderung, die die Einwohner der deutschen Hauptstadt offenbar nicht mehr nötig haben. Unter der Überschrift „Erstes Echo der Berliner zur Regelung der Lebensmittelversorgung“ zitiert die Tägliche Rundschau am 16. Mai Stimmen aus der Bevölkerung zu den am Tag zuvor in Kraft getretenen neuen Richtlinien. Lebensmittelkarten werden ab sofort in vier Kategorien ausgeteilt: Schwerarbeiter, aber auch Künstler, Ärzte und Leitungskader erhalten 600 Gramm Brot täglich, Kinder, Rentner und nicht berufstätige Familienangehörige als unterste Gruppe die Hälfte.
„Ich muß wirklich sagen, ich bin aufs angenehmste enttäuscht“, freut sich Lehrer Luftschütz aus der Frankfurter Allee 171, „nicht nur, daß man so schnell die Verpflegung gesichert hat, sondern wie hoch man die Gelehrten, Ingenieure, Ärzte, Kultur- und Kunstschaffenden einschätzt. Wie hat uns die Hitlerregierung belogen und betrogen.“ Auch Fräulein Wegener aus der Margaretenstraße ist dieser Meinung: „Soviel Unglück hat Hitler über uns gebracht. Vor den Russen hat man uns solche Angst eingejagt, und gerade sie helfen uns auf die Beine.“
Da haben beide noch einmal Glück gehabt, wie sie nur ein paar Tage später der Täglichen Rundschau entnehmen können. Denn, so lesen sie dort in einem Nachdruck aus der Prawda, es gibt auch Sowjetbürger, die den Deutschen weniger freundlich gesonnen sind. So zum Beispiel der Schriftsteller und Kriegsberichterstatter Ilja Ehrenburg, der in der Zeitung Roter Stern so tat, „als gäbe es kein Deutschland, sondern nur eine kolossale Bande, die auseinanderläuft, wenn die Rede auf die Verantwortlichkeit kommt“. Eine Ansicht, der in der Prawda und zeitversetzt in der Täglichen Rundschau unter der Überschrift „Genosse Ehrenburg vereinfacht“ energisch widersprochen wird.
DIe Berliner Zeitung, die am 21. Mai 1945 zum ersten Mal erscheint, stellt der These von der kollektiven Schuld der Deutschen gleich in ihrer zweiten Nummer ein dick gerahmtes Zitat Stalins entgegen: „Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber, der deutsche Staat bleibt.“
Eine seltsame Aufnahme aus Wien im selben Blatt zeigt germanophile Sowjetsoldaten, die am Grab des Komponisten Johann Strauß mit gezogenen Mützen einer Kranzniederlegung beiwohnen.
Im Gegenzug freut sich in der Erstausgabe der Berliner Zeitung der Dirigent des Berliner Kammerorchesters, Hans von Benda: „Für mich als Künstler ist es ein beglückendes Gefühl zu sehen, wie überall der Kulturwille der Bevölkerung starke und stetige Förderung durch die russischen Kommandostellen findet.“ Doch damit nicht genug: „Wir haben wieder Zugang zu der reichen Musik der slawischen Völker und zu anderer Musik, die unter Hitler verboten und verpönt war.“ André Meier
Fortsetzung folgt
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