: Streitschrift wider die Resignation
Oskar Negt warnt die Gewerkschaften vor dem Rückzug in die Betriebe. Sie sollten lieber ihr politisches Mandat wieder wahrnehmen
Ein wichtiges Buch ist anzuzeigen. Oskar Negt, ein Altmeister der kritischen Sozialwissenschaften, macht einer vielfach verunsicherten Linken wieder Mut zur Politik.
Vordergründig ist es eine „Streitschrift“ gegen all jene, die den Gewerkschaften die Totenglocke läuten. Tatsächlich aber geht es um die Frage: Was kann Politik in der heutigen Zeit noch bedeuten? Einen Abwehrkampf gegen die Eigendynamik einer (betriebs-)wirtschaftlichen Rationalität in der Gesellschaft oder, dem klassischen Verständnis der Demokratie entsprechend, die öffentliche Einmischung aller in ihre gemeinsamen Angelegenheiten? Für diesen anspruchsvollen Begriff von Politik versucht Negt die Gewerkschaften zu gewinnen, und eben darin sieht er ihren Beitrag für die Zukunft.
Den Gewerkschaften gehe es, so Negt, wie anderen Institutionen auch. Mitglieder laufen weg, Ansehen und Einfluss gehen zurück. Allüberall lassen sich Phänomene einer „inneren Emigration“ beobachten: in Kirchen, Parteien, Arbeitgeberverbänden und eben auch in den Gewerkschaften. Negt sieht darin freilich nur die äußeren Zeichen einer viel tiefer gehenden Veränderung. Die Organisationskrise findet ihren Ausdruck in rückläufigen Zahlen. In ihrem Kern jedoch ist sie eine Sinn- und eine Orientierungskrise.
In dieser Situation sind unterschiedliche Reaktionen denkbar. Negt warnt die Gewerkschaften vor der Versuchung des Rückzugs in die Betriebe. Als Verteidigungsbündnis gegen die Demontage der sozialen Errungenschaften würden sie keine Zukunft haben. Stattdessen empfiehlt er ihnen die Flucht nach vorne: die Erweiterung ihres Horizonts und ihres Begriffs von gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen sowie die Wiederentdeckung des politischen und des kulturellen Mandats. Die Gewerkschaften würden erst dann wieder interessant für eine breitere Öffentlichkeit, wenn sie sich sichtbar und glaubwürdig nicht nur um ihre eigenen Interessen, sondern um die Entwicklung der gesamten Gesellschaft kümmerten.
So verwandelt sich die Frage „Wozu noch Gewerkschaften?“ in die sehr grundsätzlichen Fragen: Was sind die politischen Aufgaben und die gesellschaftlichen Widersprüche in einer veränderten Welt? Und: Bergen diese Aufgaben, Widersprüche und Veränderungen möglicherweise die Chance einer neuen „Nachfrage“ nach den Gewerkschaften?
Entlang dieser Fragen entfaltet Negt neue Handlungsfelder für die Gewerkschaften. Wenn sich die Arbeits- und Lebenswelt ändert, so argumentiert er, wenn die Schwerpunkte der Arbeit und des Lebens aus dem Betrieb auswandern, dann müssen die Gewerkschaften den Menschen folgen, ihre Aktivitäten über den Betrieb hinaus ausdehnen auf jene Lebenszusammenhänge, die den Menschen immer wichtiger werden und die ebenfalls der gesellschaftlichen Organisation bedürfen.
Negt demonstriert dieses „neue“ politische und kulturelle Mandat der Gewerkschaften an den Geschlechterbeziehungen, an dem Thema „Work-Life Balance“, an den neuen Chancen und Problemen, die die Wechselbeziehungen zwischen Altern und Arbeitsmarkt aufwerfen. Unternehmen werden ältere Arbeitnehmer reaktivieren, je qualifizierter, umso lieber. Auf der Strecke bleiben jene, die es versäumt haben oder keine Chance hatten, auch als Erwachsene noch neue Kompetenzen zu erwerben. Wer betreibt, wer organisiert das soziale Thema, das als „lebenslanges Lernen“ eher verharmlost wird?
Andere neue Handlungsfelder deutet er immerhin an. Gewerkschaften, gerade weil sie überzeugt sind, dass es ohne einen handlungsfähigen Staat in einer Gesellschaft nicht sozial gerecht zugehen kann, müssten eigentlich die Ersten sein, die eine intelligente Staatsreformdebatte vorantreiben. Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Gerade weil sie in früheren Zeiten die bürgerliche Gesellschaft zu Recht kritisiert haben, könnten sie sich jetzt aktiver in die Debatte um eine sozial aktive Bürgergesellschaft einmischen und die Tendenzen stärken, Demokratie und Solidarität von unten zu erneuern. Gewerkschaften könnten, so darf man Negt wohl verstehen, wie schon in ihren Anfängen an der sozialen Architektur der Zukunft mitbauen statt hauptsächlich einer besseren Vergangenheit nachzutrauern.
In jedem Fall gelingt es dem Autor, ein Profil der Gewerkschaften im 21. Jahrhundert zu entwerfen, das an die Traditionslinien anschlussfähig ist, aber nicht bei ihnen stehen bleibt. Darüber hinaus dokumentiert seine Streitschrift eindrucksvoll, dass und wie eine linke Tradition ihre Sprache wieder finden kann. Das ist nicht eben wenig, was man von einem schmalen Bändchen sagen kann. WARNFRIED DETTLING
Oskar Negt: „Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift“. Steidl Verlag, Göttingen 2005, 176 Seiten, 14 Euro