Streit um Sicherungsverwahrte: Die lebenden Toten
Es ist die härteste Sanktion der Justiz: die Haft nach der Haft. Die prekären Lage von Sicherungsverwahrten wird sich nur mit neuen Konzepten ändern lassen, glaubt ein Gefängnisleiter.
Peter L.* ist 70 Jahre alt. Seit 40 Jahren sitzt er in der Berliner Haftanstalt Tegel - Deutschlands größtem Männerknast. 1969 hat L. eine 32-jährige Frau getötet, mit der er bekannt war. Während eines Hafturlaubs erdrosselte er eine 29-jährige Mutter und töte ihr fünfjähriges Kind, das er zuvor missbraucht hatte. Das brachte ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung ein. Im Knast gilt L. als Einzelgänger. Der Tegeler Anstaltsleiter Ralph Adam sagt, L. sei ein gebrechlicher alter Mann, der von seiner körperlichen Konstitution kaum noch in der Lage sei, schwere Straftaten zu begehen. Trotzdem hatte er keine Chancen, entlassen zu werden.
Sicherungsverwahrung ist das härteste Mittel der Justiz. Die Haft nach der Haft wird zur Vorbeugung verhängt, um die Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern zu schützen. De facto wird mit der Sicherungsverwahrung aber eine Sicherheitsillusion verkauft. Zudem wird mit der Maßnahme viel Missbrauch betrieben. Sicherungsverwahrte haben mehr Privilegien als normale Gefangene, tatsächlich lässt man sie aber in den Knästen versauern. Dem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nun einen Riegel vorgeschoben, indem er in der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung eine Verletzung der Menschenrechte sieht.
Bundesweit sind von dem Straßburger Urteil zurzeit 80 Sicherungsverwahrte betroffen. In Berlin sind es sieben. Der 70-jährige Peter L. gehört dazu. Um die Freilassung zu verhindern, hat das Bundeskabinett letzte Woche eine Neuregelung angekündigt. Für psychisch gestörte Gewalttäter soll eine neue geschlossene Einrichtung geschaffen werden. Strafverteidigerverbände und Justizminister von SPD und Grünen äußerten bereits verfassungsrechtliche Bedenken. Das Vorhaben sei gänzlich unausgegoren, heißt es. Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) sagt, die sieben Insassen aus Tegel kämen trotzdem frei.
Das Urteil: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vom Dezember müssen in Deutschland mindestens 80 Täter aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Sie sollen künftig in neuen Einrichtungen sicher untergebracht werden. Experten glauben jedoch, dass damit die Freilassung von Tätern kaum verhindert werden kann. Wenn überhaupt, könne nur ein kleiner Teil der Menschen, die von dem EGMR-Urteil betroffen sind, davon erfasst werden. Unklar ist bislang auch, was mit den Tätern geschieht, die bereits freigelassen wurden.
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Das Gesetz: Das Bundeskabinett verabschiedet heute voraussichtlich Eckpunkte für eine Reform der Sicherungsverwahrung, die auch eine Regelung für sogenannte Altfälle umfassen soll. Dabei sollen "psychisch gestörte" Täter in eine besondere Einrichtung kommen. Neben dieser Regelung für Altfälle strebt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) eine grundlegende Reform der Sicherungsverwahrung an. Sie will, dass diese Maßnahme künftig auf besonders gefährliche Täter beschränkt wird. Zudem soll die Sicherungsverwahrung nur möglich sein, wenn sie im Urteil zumindest vorbehaltlich vorgesehen war. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die weit nach einem Urteil angeordnet wird, will sie abschaffen, da sie juristisch äußerst umstritten ist. Freigelassene könnten mit elektronischen Fußfesseln überwacht werden. (dpa)
Allerdings werden sich die Gefängnistore für Peter L. frühestens im Herbst öffnen - EGMR-Urteil hin oder her. Eine Freilassung aus der Sicherungsverwahrung auf Bewährung kann nur von einer Strafvollstreckungskammer verfügt werden. Die hat aber noch nicht getagt. Was Peter L. dann erwartet, kann man zurzeit in den Boulevard-Blättern nachlesen. Andere Sicherungsverwahrte, die im Bundesgebiet aufgrund des EGMR-Beschlusses schon auf freiem Fuß sind, werden Tag und Nacht von Reportern verfolgt. Die Storys über vermeintliche "Kinderschänder", die auf die Bevölkerung losgelassen werden, füllen ganze Seiten. Auch von Zivilpolizisten werden die Freigelassenen observiert. "Viele Einrichtungen weigern sich inzwischen, entlassene Sicherungsverwahrte aufzunehmen, weil sie nicht die Meute von der Bild-Zeitung auf dem Hals haben wollen", sagt Rechtsanwalt Sebastian Scharmer, Experte für Sicherungsverwahrung bei der Vereinigung Berliner Strafverteidiger.
Auch in der JVA Tegel hat man einen Vorgeschmack davon bekommen, was es heißt, für einen Sicherungsverwahrten draußen eine Bleibe zu suchen. Der 70-jährige L. soll in einem Altenpflegeheim untergebracht werden. "Die Heime sagen, ja, das ist vorstellbar", erzählt der Anstaltsleiter. "Aber dann fragen sie, was passiert, wenn die Bewohner rauskriegen, um wen es sich bei dem Neuen handelt, weil jeden Tag Presse und Polizei vor der Tür stehen." Den Entlassenen würde keine Chance gelassen, sich zu integrieren, befürchtet der Anstaltsleiter. "Das sind ganz labile Menschen. Wenn sie sich gehetzt fühlen, werden sie noch instabiler."
Die sieben von dem EGMR-Beschluss betroffenen Tegeler Insassen haben schlimmste Straftaten verübt. Mord, Totschlag, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, zumeist waren Frauen und Kinder die Opfer. Inzwischen liegen diese Taten aber 17 bis 40 Jahre zurück, die Täter sind jetzt zwischen 50 und 70 Jahre alt. Die Frage ist: Geht von den Männern heute wirklich noch eine Gefahr aus, wie selbst seriöse Medien suggerieren, oder handelt es sich um Panikmache? Im Berliner Tagesspiegel war unlängst zu lesen, der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der FU Berlin, Hans-Ludwig Kröber, habe über die sieben Tegeler Insassen neue Gutachten verfasst. Fünf von ihnen halte er für rückfallgefährdet. Was der Leser nicht erfährt: Kröber hat mit keinem der sieben gesprochen. Seine Einschätzung basiert auf alten Gerichtsakten und Haftunterlagen.
Dass psychiatrische Gutachter sich gern auf die sichere Seite schlagen, ist bekannt. Dabei ist das Risiko, dass ein Täter in Freiheit rückfällig wird, gar nicht so groß. Der Jurist Michael Alex von der Universität Bochum hat bundesweit 77 Fälle untersucht, in denen die Staatsanwaltschaft Sicherungsverwahrung beantragt hatte, die Gerichte diese aber nicht verhängt haben. In allen Fällen hatten die Gutachter eine hohe Rückfallgefahr prognostiziert. 12 der 77 Entlassenen wurden später wieder zu Strafen ohne Bewährung verurteilt, aber nur vier begingen erneut eine schwere Sexual- und Gewalttat. Das Fazit von Alex: Nur 5 bis 10 Prozent der Sicherungsverwahrten seien wirklich gefährlich. Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig ist bei einer ähnlichen Untersuchung auch auf eine Rückfallquote von 10 Prozent gekommen.
Der Tegeler Anstaltsleiter Adam kennt die Zahlen. "Das ist der Knackpunkt, mit dem sich die Gesellschaft auseinandersetzen muss", sagt er. "Kann sich ein Rechtsstaat leisten, 30 Leute nicht freizulassen, weil 3 von ihnen gefährlich sein können?" Für den Leiter einer Haftanstalt ist das eine mutige Aussage. Er weiß, wie schnell einer wie er in die Ecke gestellt wird, die Sicherheit der Allgemeinheit sei ihm egal. "Das stimmt nicht", sagt Anstaltsleiter Adam. "Ich weiß genau, was diese Menschen gemacht haben." Aber in 32 Jahren, die er in Tegel arbeite, habe er nie erlebt, dass ein entlassener Sicherungsverwahrter wegen des gleichen Delikts einen Bewährungswiderruf bekommen habe.
"Das Gute an dem Urteil des EGMR ist, dass es uns zwingt, uns neu mit der Sicherungsverwahrung und den Menschen auseinanderzusetzen", sagt der Anstaltsleiter. "Sicherungsverwahrte in deutschen Gefängnissen sind praktisch aufgegeben", sagt Rechtsanwalt Scharmer.Therapeutisch werde mit den Insassen faktisch nichts gemacht, nach dem Motto: "Die bleiben doch eh immer drin." Scharmer vertritt in den Bundesländern viele Sicherungsverwahrte und kommt dementsprechend herum. Auch der EGMR hat in seinem Urteil moniert, dass die große Mehrheit der Sicherungsverwahrten ohne Hoffnung sei, jemals wieder freizukommen, und somit "vollkommen demotiviert". Die psychologische Betreuung und Unterstützung scheine "äußerst unzureichend" zu sein. Die Sicherungsverwahrten seien zu einer In-Group geworden, von der eine negative Dynamik ausgehe, ist Adams Beobachtung. Die Insassen seien extrem verbittert, hätten zugemacht und seien für therapeutische Angebote überhaupt nicht erreichbar.
Die Verschärfung der Gesetze zur Sicherungsverwahrung hat massiv zu dieser Entwicklung beigetragen, sind sich Vollzugsexperten einig. 1998 wurde die Sicherungsverwahrung unbefristet verlängert. 2004 wurde eingeführt, dass die Maßnahme auch nachträglich, während der Haftzeit, verhängt werden kann.
Bundesweit haben die Zahlen der Straftäter, die zusätzlich zur Haftstrafe zu Sicherungsverwahrung verurteilt werden, seither drastisch zugenommen. 2000 saßen in der JVA Tegel noch 10 Sicherungsverwahrte ein, heute sind es bereits 37. Bundesweit sitzen zurzeit rund 500 Menschen in Sicherungsverwahrung. "Dabei kommt die Lawine erst noch", warnt Rechtsanwalt Scharmer. "In ein paar Jahren werden es bis zu 1.500 sein. Die sind zurzeit noch alle in Strafhaft."
Früher seien die Sicherungsverwahrten deutlich älter gewesen und hatten diverse Gefängnisaufenthalte hinter sich, bevor ihnen vom Gericht ein "Hang" zu Straftaten- die Voraussetzung für die Verhängung von Sicherungsverwahrung - bescheinigt worden sei, sagt Adam. Jetzt säßen schon 40-Jährige im Knast. "Die Rechtssprechung ist rigider geworden, obwohl sich die Zahl der Straftaten nicht erhöht hat", sagt Adam.
Um das Problem zu lösen, sieht der Anstaltsleiter nur einen Ausweg: "Wir müssen unsere Konzepte ändern." Die Inhaftierten müssten für eine Sozialtherapie gewonnen werden, am besten noch bevor sie in Sicherungsverwahrung kämen, um die Chance zu erhöhen, dass sie diese vielleicht gar nicht antreten müssen. Je früher die Therapie begonnen werde, um so besser, sagt auch Scharmer."Das muss unmittelbar nach Tat und Strafe geschehen, wenn alles noch frisch ist."
In einem Punkt unterscheiden sich der Anstaltsleiter und der Rechtsanwalt allerdings diametral. Scharmer findet, die Sicherungsverwahrung gehört grundsätzlich abgeschafft. Weil das politisch derzeit aber nicht durchsetztbar sei, müsse die Sicherungsverwahrung wenigstens auf schwerste Sexual- und Gewaltstraftaten reduziert werden, meint er.
Rund 30 Prozent der Sicherungsverwahrten seien wegen Eigentums- und Rauschgiftdelikten zu der Maßnahme verurteilt worden. "Das ist ein Unding." Damit, dass es Rückfalltäter gebe, die schwerste Straftaten begingen, müsse eine Gesellschaft leben, sagt Scharmer. So wie es immer schwere Autounfälle geben werde. "Aber deswegen verbieten wir das Autofahren doch auch nicht."
* Name geändert
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