■ Streichung bei Opfer-Renten: Seelenlose Bürokraten
Es ist schon merkwürdig, mit wie wenig Fingerspitzengefühl Verwaltungsbeamte an ihr Werk gehen können. Bar jeder politischen und moralischen Sensibilität hat sich die Finanzverwaltung nun beim Ausbrüten ihrer Streichliste der Berliner Sonderregelung für Nazi-Opfer angenommen. So nebenbei wurde im Hause Pieroth mit dem Rotstift ein Beitrag zur „Vergangenheitsbewältigung“ geleistet. Im fünfzigsten Jahr nach dem Ende des Holocaust, dessen Planung in Berlin betrieben wurde, sollen die ohnehin kärglichen Leistungen für überlebende Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Verfolgte gestrichen werden.
Bei aller Verzweiflung, die die Finanzverwaltung alltäglich bei ihrer Aufgabe beschleicht, das Milliardendefizit des Landes abzubauen – dem Hausherrn Elmar Pieroth hätte es gut angestanden, diesen Punkt den Koalitionären gar nicht erst vorzulegen. In die Unruhe, die das Papier bei den Betroffenen mittlerweile ausgelöst hat, mischt sich nämlich der Zweifel, welchen Wert die vollmundigen Trauerbekundungen mancher Spitzenpolitiker überhaupt haben. Ohne die finanzielle Zuwendung, die die Leiden der Überlebenden sowieso nicht aufwiegen kann, bleiben Sonntagsreden eben Sonntagsreden. Nebenbei offenbart die Ideenwut der Finanzjongleure, daß die historische Aufarbeitung an manchen Verwaltungen offenbar völlig vorbeigegangen ist. Da mühen sich Historiker ab, die willfährige Indienstnahme der Bürokratie während der NS-Zeit aufzudecken, organisieren Gewerkschaften Seminare für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Wenn es aber darauf ankommt, funktioniert der Verwaltungsapparat so seelenlos wie von vielen Skeptikern befürchtet: korrekt, ergeben und stets den Zahlenkolonnen verpflichtet. Severin Weiland
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