piwik no script img

■ Straßmanns kleine WarenkundeDie Kinderwurst

Wir ergreifen die blutrote Reißleine. Mit einem kleinen Ruck reißen wir einen Schlitz in die Außenhaut. Jetzt können wir den oberen (den kürzeren) Teil der Hülle, indem wir mit der zweiten Hand auf den oberen Teil einen leicht quetschenden Druck ausüben, „wegklappen“. Rosig und in aller Unschuld schaut uns das obere Ende der Kinderwurst an.

Tatsächlich haben wir die zentrale Entscheidung schon lange zuvor getroffen: Greifen wir zur gelben oder zur roten Kinderwurst? Die rote besteht aus (Volldeklaration): Schweinefleisch, Rindfleisch, Trinkwasser, jodiertem Nitritpökelksalz (Kochsalz, Kaliumjodat, E 250), Zuckerstoffen, Gewürzen, E 331, E 621, E 300, Nicotinamid, Vitamin E, Pantothensäure, Vitamin B 12, B 6, B 2, B 1, Folsäure, Biotin. Die gelbe Kinderwurst hingegen versammelt in ihrer für den Verzehr nicht geeigneten Kunststoffpelle zusätzlich Gemüseperlen (Hartweizengrieß, Karotten, Spinat, Tomaten, Brokkoli). Zwei Kinderwürste decken ca. „1/3 des empfohlenen Tagesbedarfes an den zugesetzten Vitaminen ab,“ jubelt die Verpackung.

Erinnert sich noch jemand an Frau Mettjes? Frau Mettjes war Metzgersfrau in der Metzgerei in der Bogenstraße. Sie trug eine blauweiß gestreifte Bluse, erfreute sich einer erstaunlichen Oberweite und enormer Oberarme und blickte gütig durch eine Halb- oder Lesebrille. Die Kinder der Kundschaft wurden zuverlässig mit einem dicken Stück Fleischwurst ohne bedacht. Beim Hinüberwuchten über den Verkaufstresen verließ ein Teil der Metzgersfrau jedesmal den hygienischen Bereich – seit Menschengedenken ein Dorm im Auge jedes Hygienikers. Diese hygienische Nische sah und besetzte Stockmeyer.

Stockmeyers Kinderwurst ist nicht nur hygienisch, sondern deckt den empfohlenen Bedarf. Vier Stück a 25 Gramm, zwei mit Gemüseperlen, alle mit kropfreduzierendem Jodsalz, sind in einer Packung untergebracht, auf die ein tolles Suchspiel aufgedruckt ist. Es gilt, einen kleinen Fuchs auf einem Bild zu finden, ihn einzukreisen und, sind einmal drei gelöste Suchbilder akkumuliert, diese an Stockmeyer zu schicken. Man erhält ein tolles Spieleposter. Der Fuchs ist übrigens auf der Vorderseite der Verpackung abgebildet, wie er in Anwesenheit eines kleinen Fuchses und eines hinter einem Baum versteckten Hasen in die Kinderwurst beißen will. Der große Fuchs trägt eine lila Uniform und sieht unsympathisch aus.

Wir beißen nun ins rosige Ende. Wir würden den Geschmack, der sich in der Mundhöhle entfaltet, als blaß bezeichnen. Wie die Erinnerung an Frau Mettjes in der Bogenstraße. BuS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen