■ Störzeile: Tauwetter
Liebe Göttin, mach Tauwetter! Schickt die Eisbrecher von der Elbe auf die Alster! Hamburg ist ergriffen von kollektivem Eiswahn, vergleichbar nur mit der FC-St.-Pauli-Hysterie. Man möchte an eine neue Epidemie glauben, die die Bevölkerung klassen- und generationenübergreifend in Alstereis-Fieber versetzt – zumindest läßt der derzeitige Medienhype dies vermuten.
Die Euphorie grenzt in Penetranz und Unvernunft an die Empörung über Parkgebühren oder Graffitis in S-Bahn-Waggons. Gibt es in dieser Stadt tatsächlich kein wichtigeres Thema als das Zufrieren des gequälten City-Tümpels? Interessiert es wirklich irgend jemand, wie viele Glühwein-Stände auf dem Alster-Eis stehen dürfen?
Dabei wird mit der Massenbegeisterung über diese perfekte Mischung aus Alstervergnügen und Weihnachtsmarkt lediglich Urbanität zugunsten von verkitschter Hamburg-Tümelei verleugnet. Wozu dient dieser arme Teich denn sonst noch, wenn nicht als Bühne für segelnde hanseatische Dumpfbacken in Marineblau? Was stellt er normalerweise anderes dar als eine Sonnenuntergangs-Kulisse für Neu- und Altreiche in Winterhude-Süd?
Plötzlich stürmt das Volk auf den See, nicht etwa, um ihn den wohlsituierten Alstervorland-InhaberInnen wegzunehmen und deren Genuß an ihrem Gartenteich zu trüben. Nein, Tau-sende wollen teilhaben an dem lokalpatriotischen Getue und sich die scheinbar authentische Erfahrung von Naturgewalten in metropolitaner Umgebung abholen.
Ach Göttin, laß Dein Herz und dann bitte die Eisdecke erweichen! Ulrike Winkelmann
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