: Stimmen der Vernunft
Das Verhältnis von „Kultur und Politik“ war in Deutschland stets spannungsreich. Dessen Wandel beleuchtet der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Wolf Lepenies
VON JENS HACKE
Kultur und Politik stehen in einem spannungsreichen Verhältnis. Im kulturreligiösen Deutschland neigte man in der Vergangenheit dazu, beide Bereiche streng voneinander zu trennen. Die Lust am produktiven Zusammenspiel zwischen Kultur und Politik, wie es sich heute in politisch engagiert geführten Feuilletondebatten zeigt, haben die Deutschen erst sehr spät entwickelt.
Zu ernst nahm man hierzulande die Hochkultur, zu abschätzig behandelte man das Politische. Lange Zeit kompensierte der „deutsche Geist“ die fehlenden politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, indem die Attacken gegen die profane Zivilisation und die Zumutungen der Politik umso schärfer ausfielen.
Einige Stationen dieser komplizierten Beziehungsgeschichte thematisiert der Soziologe Wolf Lepenies auf originelle Weise in seinem neuen Werk, um den deutschen Eigentümlichkeiten auf die Schliche zu kommen. Ob wir mit Goethe noch einmal Napoleon begegnen, mit Nietzsche die Reichseinigung 1870/71 erleben, Friedrich Naumann und Max Scheler in den Ersten Weltkrieg begleiten oder Thomas Manns und Friedrich Meineckes Verzweiflung angesichts der „deutschen Katastrophe“ durchleiden – Lepenies konzentriert sich auf die Ambivalenzdenker, die sich den nationalen Stereotypen entziehen. Ihnen kamen Zweifel am kulturellen Sendungsauftrag.
Den Sieg von Sedan als Bestätigung deutscher Kulturhoheit zu deuten, sah „Felddiakon“ Nietzsche als grandiose Dummheit an. Dieser Wahn sei „höchst verderblich, weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches“. Nietzsche problematisierte damit früh die Ungleichzeitigkeit politischer und kultureller Entwicklungsschübe, deren Erfahrung ihn zum Skeptiker machte, ohne freilich Demokrat sein zu müssen.
Es ist für Lepenies kein Zufall, dass Thomas Mann diesen Faden einige Jahrzehnte später wieder aufnahm. Seine Haltung ironischer Skepsis als Fluchtpunkt „innerer Politik“ setze zwar einen Kontrapunkt zu den professoralen Fanfaren der Ideen von 1914, repräsentiere aber zugleich eine Variante „machtgeschützter Innerlichkeit“, die sich aus typisch deutschen Wurzeln speise. Nicht umsonst knüpfe Mann immer wieder an die Goethische Klassik an und begründe dazu seine republikanische Wendung von 1922 sogar mit der Verwandtschaft des romantischen Denkens und der Demokratie. Er lernte seine Lektion und, so Lepenies, „akzeptierte schließlich das Politische und das Soziale als einen unentbehrlichen Teil menschlicher Existenz“.
Die Politik blieb anderen deutschen Geistesschaffenden suspekt, wie Lepenies unterstreicht: „Manches Mal konnte es scheinen, als sei Deutschland ein Land ohne Politik, ein Staat mit Untertanen, aber ohne Bürger.“ Viele Intellektuelle kultivierten diese merkwürdige Art der Selbstmarginalisierung. Die Zeugnisse des bürgerlichen Selbsthasses sind Legion, am markantesten wohl aus den Reihen der so genannten „Konservativen Revolutionäre“, die mit dem Bourgeois auch den Citoyen zu eliminieren wussten. Benn, Heidegger oder Jünger merkten zu spät, dass für sie in der „deutschen Revolution“ von 1933 nur Statistenrollen vorgesehen waren – nachdem sie die Sache der Kultur vorschnell verraten hatten.
Laut Lepenies führte vor allem eine spezifische Institutionen- und Wirklichkeitsferne den Großteil der deutschen Intellektuellen auf Abwege. Sicherlich, die Tradition des deutschen Idealismus, der Glaube der „bewaffneten Fichteaner“ an die Kraft der Ideen blieb virulent für eine fehlende Kultur des Politischen. Aber, so möchte man Lepenies’ Befund ergänzen, es gab darüber hinaus einen ebenso gefährlichen Wirklichkeitskult. Heinrich von Treitschke, Oswald Spengler oder Arnold Gehlen meinten, die herrschenden Zustände realistisch zu beurteilen und dabei auf jede normative Grundierung verzichten zu können. Was die meisten Intellektuellen in Deutschland – bis in den Herbst 1989 – teilten, war die Neigung zur Selbstüberschätzung.
Lepenies lenkt unsere Aufmerksamkeit auch auf die Außenwahrnehmung deutscher Kultur. Sein eindringliches Porträt des französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der als Verfechter einer ungeteilten Vernunft in Buchenwald starb, ist meisterhaft, weil es das Exempel für einen opferbereiten ethischen Rationalismus bietet. Aufschlussreich ist ebenfalls Allan Blooms versuchte „Abschließung des amerikanischen Geistes“ von seinen alteuropäischen Einflüssen, die er in Zeiten des Kalten Krieges als Krisenkeime für die amerikanische Gesellschaft erkennt. Dass Bloom selbst bei einem Alteuropäer par excellence, dem Philosophen Leo Strauss, in die Lehre ging, ist mehr als eine ironische Fußnote.
Lepenies deutet damit an, wie schwierig es seit dem 20. Jahrhundert ist, national verschiedene Intellektuellenkulturen voneinander zu scheiden, weil sie nur noch im engen wechselseitigen Austausch erlebbar sind. So ließe sich über Deutschlands politische Intellektuelle von Kant bis Heine, von Weber zu Dahrendorf ein ganz anderes Buch schreiben. Denn bei aller berechtigten Skepsis gegenüber intellektueller Selbstüberschätzung, die Lepenies in seinem klugen Großessay nahelegt, waren die bornierten Vertreter deutscher Kultur weniger treibende Kraft als Symptom. Warum sich die Stimmen der Vernunft selten durchsetzten, ist keine Frage der Kultur oder der Politik, sondern der Gesellschaft insgesamt.
Wolf Lepenies: „Kultur und Politik. Deutsche Geschichten“. Hanser Verlag, München 2006, 446 Seiten, 29,90 Euro