Sternanis und Gänseschmalz

Was hilft gegen die Plagen der Welt? Soul, Soul, Soul! Ein Festausklang

Es war die letzte Reise des Jahres. Zum Kehraus ging es, ins „Haferkamp“, das Restaurant, das Beate Kleinschmidt, Frank David und Jan Richter neun Jahre lang in Essen-Frohnhausen geführt hatten. Das „Haferkamp“ war eine Oase des Richtigen in der Schlammflut so genannter Gastronomie; was hier auf die Teller kam, war nicht nur klasse, sondern auch reell, hier wurde keiner betuppt. Denn es gab das, worum es geht: keine gesponsorte Kochlöffelangeberei, sondern ehrliche Arbeit, ohne Dünkel vorgetragen auf hohem Niveau. Dass ein Kleinunternehmen, das nicht auf maximalen Profit, sondern in erster Linie auf hohe Qualität aus ist, selbst bei größtmöglicher Auspressung der eigenen Ressourcen nicht zu halten ist, gehört zu dem Skandal, in dem man lebt im Idiotenland der Agenda 2010.

Niemand, nicht einmal das Propagandareibeisen Gerhard Köder-Schröpf, ist an allem schuld. Dass aber Fraß an jeder Ecke als Essen verkauft und wirkliches Essen zum Privileg für Reiche wird, ist das Ergebnis einer Politik, die er hochaggressiv vertritt und selbstgefällig verantwortet. Mag der halbseidene Kerl noch so oft behaupten, er sei Sozialdemokrat: Gerhard Schröder ist das Gegenteil von allem, was an Sozialdemokratie einmal akzeptabel war. Man kann ihm adäquat nur eines sagen: das gute alte deutsch-polnische Wort tschüssikowski.

Vor die Ankunft in Essen hatten die Verkehrsregeln die Deutsche Bahn AG gesetzt, also Hartmut Mehdorn. Der sich in seinem eigenen Bahnheft, Die Bahn, ein Denkmal hat setzen lassen als „oberster Stratege, Antreiber und Motivator“. Wie in Schleim und Scheiße gemeißelt steht es da, als ob es also quasi im Fakten-Fakten-Fakten-Blatt Focus stünde: „Zum Glück folgt jedem Sonntag sogleich der Montag.“

So sagenhaft muss es wohl zugehen in der Welt unserer unerreichbar tapferen Strategen, Antreiber und Motivatoren: dass jedem Sonntag ein Montag folgt. „Und damit los, in die Hände gespuckt und an die Arbeit. Am liebsten schon morgens um sieben. Typisch für Hartmut Mehdorn … Anpacken, anschieben, ankurbeln … Nein, den Brocken Eisenbahn tragen keine schmalen Schultern, noch bewegt ihn zierlich eine Pianistenhand. Diesen Konzern regieren nebst dem Verstand auch Kraft und Wille. ‚Grad durch‘, muss einer sagen. Und dann folgen sie seinem Pfad.“

Den namentlich nicht gezeichneten Führerfantasien sind hannsmartinschleyerartige Fotografien beigegeben; deutsche Helden müssen wohl so aussehen, dass der Blindenhund knurrt. Analog grient auch Alfred Biolek vom DB-mobil-Titel – derselbe Biolek, der auch in jeder Illustrierten als Werbelachsack für Klosterfrau Melissengeist zu betrachten ist, in rosettenrosa Hemd und Goldschlips, mit offenstehender Futterluke und der Unterschrift: „Dr. Alfred Biolek“, weil für das Diakonissinnensüffeln ein Doktortitel Bedingung ist.

Am Speisewagennachbartisch wird derweil etwas bestellt, von dem man besser die Finger ließe: Eintopf. Kaum drei Sekunden später wird der mikrowellige Pampf serviert. „O, das ging ja schnell“, sagt der Fahrgast, sich wundernd. Der Speisewagenkellner aber ist Berliner und hält Grobianismus entsprechend für Schlagfertigkeit und für Charme. Den versprüht er reichlich: „Ick könnts ooch einmal durchen Zuch hinundhertragn, denn würdet länga dauern, aber denn wärt ooch kalt, wa!?“ Der Gast, angstdurchglommen, zuckt und sagt vorsichtshalber gar nichts mehr. Nur eine alte Frau jabbelt das Personal voll: „Ich reise doch nur, um den Kindern eine Freude zu machen …“, jammert die alte Hexe verlogen; solange sie sich bei ihren Kindern aufhält, wird sie ihnen mit dieser Geschichte in den Ohren liegen.

Dann kommt man an und geht zum Fest ins „Haferkamp“. Es stimmt. Ich sehe drei Menschen tanzen, die ich neun Jahre vor allem habe arbeiten sehen; es ist eine Wonne, sie glücklich zu sehen, und es ist ein Schmerz: Das ist vorbei, das gibt es so nicht mehr. Der Mann an den Plattenspielern aber weiß um um die Kunst der Schmerzlinderung. Sie heißt Soul, Soul, Soul – zu keiner anderen Musik kann sich der menschliche Körper so selbst beglückend bewegen wie zu dieser. Und während Becken kreisen und gespreizte Finger albern in der Luft herumzucken, weiß man: Die Freude am unverfälschten Dasein ist der Widerstand gegen das Dikat der Simulanten, heißen sie nun Schröder, Mehdorn oder Biolek. Auf den ersten Blick erscheinen Existenzen wie diese drei als Gründe, Harakiri mit dem stumpfen Essbesteck in der Bahn zu begehen oder sich, wenn auch fruchtlos, mit dem Zuckerstreuer zu erschlagen. Doch es lohnt nicht. Gegen diesen Totentanz / hilft allein die Ignoranz.

Die Ankunft in Berlin stiehlt sich die Wirklichkeit aus einem Schubert-Lied: „Die kalten Winde bliesen / mir grad ins Angesicht, / der Hut flog mir vom Kopfe, / ich wendete mich nicht.“ Dann fuhr ich eine Ente holen, von Roland Botsch, dem Nachbarn und Koch des Bateau Ivre, um sie mit Bio-Linda statt mit Bio-Lek-Kartoffeln und mit Rotkraut zu kochen – mit Sternanis und Gänseschmalz / statt Doktor Alfred Faltenhals. WIGLAF DROSTE