Steinbrück über die Lehren aus der Krise: "Die Privilegierten sind das Problem"
Heute erscheint Peer Steinbrücks Buch "Unterm Strich". Seine These: Weder "Rechts- noch Linksausleger" gefährden die Gesellschaft, "sondern die Protagonisten des Systems selbst".
taz: Herr Steinbrück, Ihr Buch "Unterm Strich" ist eine 500-Seiten-Analyse über die Politik, die Deutschland eigentlich bräuchte. Streben Sie noch einmal ein öffentliches Amt an?
Peer Steinbrück: Nein. Trotz aller Spekulationen, die es gibt.
"Der Spiegel" hat Sie als möglichen Kanzlerkandidaten der SPD für 2013 ins Gespräch gebracht. Ist das kompletter Unfug?
PEER STEINBRÜCK, 63, ist Bundestagsabgeordneter der SPD. Von 2005 bis 2009 war er Bundesfinanzminister und Vizevorsitzender der SPD. Zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) manövrierte er die große Koalition durch die Finanzkrise. Zuvor amtierte er seit 2002 als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. 2005 verlor er bei der Landtagswahl gegen Jürgen Rüttgers (CDU). Der verheiratete Vater dreier Kinder lebt in Bonn.
Das Buch: Peer Steinbrück, "Unterm Strich", Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2010, 480 Seiten, 23 Euro
Der Artikel folgt der Tendenz Ihrer Branche, dass Politik ständig einer personellen Zuspitzung und Spekulation unterliegt.
Sie entwerfen in Ihrem Buch, welche Eigenschaften Politiker heute bräuchten, um die Menschen anzusprechen. Sie sollten atypisch sein, kantig, überparteilich und distanziert, am besten auch gegenüber ihrer eigenen Person. Trifft diese Beschreibung auf Sie selbst zu?
Sie locken meine Eitelkeit. Aber es wäre verwunderlich, wenn ich mich nicht selbst so dargestellt wissen wollte. Ich habe mich lange gefragt, warum Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt und Joachim Gauck so große Anerkennung erfahren. Die Menschen entwickeln nur noch wenig Sympathie für Politiker, die parteipolitisch als sehr selbstbezogen wahrgenommen werden und darüber ihre Realitätswahrnehmung einschränken. Die politische Klasse wird teilweise als dumpfbackig wahrgenommen.
Sie teilen diese Wahrnehmung, wie man Ihren Beschreibungen des Innenlebens der SPD entnehmen kann.
Ich habe dort manchmal gelitten. Aber die auch an mir. Vieles ist sehr ritualisiert.
Was würden Sie zur Wiederbelebung Ihrer Partei als Erstes unternehmen, wenn Sie noch einmal die Position dazu hätten?
Der Ernstfall der Politik ist die Begegnung mit den Wählern. Politiker sollten ihre wesentliche Legitimation nicht in Parteigremien, sondern bei den Bürgern erwerben.
Sie machen den hübschen Vorschlag, dass SPD-Abgeordnete ihr Mandat verlieren sollten, wenn sie im eigenen Wahlkreis mehrmals weniger Zuspruch erhalten, als die Partei insgesamt.
Ja, ich habe Abgeordnete erlebt, deren Erststimmenergebnis regelmäßig viel schlechter ausfiel als das Zweitstimmenergebnis der Partei. Das hinderte sie aber nicht, im selbstreferentiellen System der SPD die lauteste Stimme zu führen. Mir würde dieser Widerspruch zu denken geben.
Kennen Ihre Kollegen diese Idee schon?
Nein. Sie wird für einen Aufschrei sorgen. Ein anderes Beispiel: die Jusos. Deren jetziger Vorsitzender plädiert dafür, die Rente mit 67 abzuschaffen. Damit vertritt er die Interessenlage der 60-Jährigen. Das ist grotesk! Ich dachte, das sei eine Jugendorganisation, die für Zukunftsinteressen einsteht. Für wen machen die Jungsozialisten denn Politik?
Bis Herbst 2009 waren Sie Vizevorsitzender der SPD. Warum haben Sie eine entsprechende Parteireform damals nicht eingefordert?
Ich habe nicht hinter dem Berg gehalten. Aber solche Vorstellungen treffen nicht auf die ungeteilte Zustimmung aller Beteiligten.
Kann man mit diesen Positionen Kanzlerkandidat werden?
Damit wird man in der SPD wohl eher nicht Kandidat.
Jetzt warnen Sie, dass die Demokratie und der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet seien. Wodurch gerät der Sozialstaat unter Stress?
Die Einkommen der Beschäftigten driften auseinander. Ein zunehmender Spagat entsteht zwischen Arm und Reich. Heute segmentiert sich die Gesellschaft außerdem in bildungsferne und bildungsnahe Schichten. Und nicht zu unterschätzen ist die demografische Herausforderung: Die Interessen der Rentner finden heute oft mehr Gehör als die Anliegen der 20- bis 40-Jährigen.
In den elf Jahren Ihrer Regierungsverantwortung hat die SPD die Sozialleistungen gekürzt und die Steuern für die wohlhabenden Bevölkerungsschichten gesenkt. Bestreiten Sie eine Mitverantwortung für die Missstände, die Sie nun beklagen?
Die Hartz-Reformen und rechtzeitige Steuersenkungen für alle, nicht nur die Oberen, waren notwendig, damit der Sozialstaat nicht unter den Kosten kollabierte und Deutschland auf einen Wachstumspfad zurückkehren konnte, statt im Steuersenkungswettbewerb das Rückgrat gebrochen zu bekommen. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise allerdings ist der Beitrag zu niedrig, den die prosperierenden Schichten heute für den Zusammenhalt der Gesellschaft leisten. Parallelgesellschaften existieren nicht nur am unteren Ende, sondern auch an der Spitze der Einkommenspyramide.
Wie würden Sie dieses Paralleluniversum der Reichen beschreiben?
Dort leben diejenigen, die sagen: Wir brauchen den Staat nicht, jeder Euro Steuerzahlung ist zu viel. Öffentliche Dienstleistungen benötigen wir nicht, wir können sie privat kaufen. Deren Wahrnehmung ist abgehoben von den Fliehkräften in der Gesellschaft. Diese ist nicht gefährdet durch Rechts- oder Linksausleger, sondern durch die Protagonisten des Systems selbst. Es sind die Privilegierten, die durch Maßlosigkeit, den mangelnden Sinn für Balance und Proportionen, durch eine Bereicherungsmentalität an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Ihnen fehlt der Sinn für soziale Bündnisse nach unten, um Verlierer zu integrieren.
Was soll man dagegen tun?
Diese Leute müssen erkennen, dass ihre übersteigerten Gewinnerwartungen zur Zerstörung der Marktwirtschaft führen. Und dass ihre persönliche Einkommensentwicklung so nicht weiterlaufen kann. Ich mahne eine sehr viel stärkere Gemeinwohlorientierung an. Die kann man nicht durch Gesetze verordnen. Das geht nur durch eine breite Debatte. Diejenigen, die sich zivilisiert verhalten, sollten mehr öffentliche Anerkennung erfahren.
Hat die Finanzkrise dazu beigetragen, diese Fehlentwicklungen deutlich zu machen?
Ja, die Krise hat als Beschleuniger gewirkt. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sie anonymen Kräften ausgesetzt sind, auf die sie keinen Einfluss haben. Sie fragen sich, ob sie jetzt die Dummen sind, die den Preis zahlen müssen.
Liegen sie damit nicht richtig?
Auf die Steuerzahler kommt in der Tat einiges zu. Deshalb ist es dringend angezeigt, den Finanzsektor mit einer Art Umsatzsteuer auf alle Finanzgeschäfte an den Kosten der Krise zu beteiligen. Das ist mehr als eine ökonomische, sondern auch eine gesellschaftliche Frage.
Als Finanzminister haben Sie sich selbst erst relativ spät für dieses Vorhaben ausgesprochen. Da war die Krise schon lange im Gange, und die Bundestagswahl 2009 stand vor der Türe. Warum haben Sie diese Idee nicht früher propagiert?
Es war ein gedanklicher Prozess, und es gab gewichtige Gegenargumente. Eines davon: Es macht keinen Sinn, eine solche Steuer national zu etablieren, weil Finanzgeschäfte dann auswandern. Aber schließlich war ich relativ ehrgeizig, das Projekt auf die internationale Tagesordnung zu setzen.
Im Buch beschreiben Sie, wie die Bürger den Glauben an die Politik verlieren. Wegen der Internationalisierung der Wirtschaft sind den nationalen Regierungen oft die Hände gebunden. Und zusammen mit anderen Staaten fällt es ungeheuer schwer, Lösungen zu verabreden und umzusetzen. Kann die Politik da überhaupt noch gesellschaftlichen Zusammenhalt organisieren?
Wenn sie es nicht immer wieder aufs Neue versucht, verliert sie ihre Gestaltungshoheit.
Und wie würden Sie die Finanzsteuer konkret durchsetzen?
Indem ich schrittweise versuche, voranzukommen. Es gibt ja ein paar Länder um uns herum, die diese Umsatzsteuer mittragen würden - Österreich, Frankreich, Holland und andere. Die Hälfte der Euroländer könnte man wahrscheinlich gewinnen. Damit muss man anfangen.
Ist das jetzt Theorie, oder haben Sie es als Bundesfinanzminister selbst ausprobiert?
Als ich noch im Amt war, habe ich versucht, die internationale Meinungsbildung voranzutreiben. Und ich bin enttäuscht, dass die Regierung aus Union und FDP jetzt nicht das gesamte Gewicht Deutschlands in die Waagschale wirft. Das wäre ein wichtiger Beitrag, um Legitimation für unser Gesellschaftsmodell zu organisieren. Die Bürger wollen nicht, dass sie die Gelackmeierten einer Krise sind, die andere zu verantworten haben. Das ist eine Frage des Fairnessgebotes.
Sie ziehen ein düsteres Fazit der Finanzkrise: Die Regulierung der Märkte, die die Regierungen der wichtigsten Industriestaaten ihren Bürgern versprochen haben, sei zumindest teilweise gescheitert.
Es gibt Fortschritte. Aber einige Ursachen dieser Krise sind nach wie vor nicht beseitigt. Die Ankündigung des ersten Finanzgipfels von Washington 2008, dass jedes Produkt, jeder Teilnehmer und jeder Markt einer Aufsicht unterworfen werden sollte, ist auch nach vier Finanzgipfeln noch nicht umgesetzt.
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