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Standpunkt: Die Natur verlernt Milan, Rohrweihe oder Bussard?

Wir reden dauernd über „Natur“. Dabei können wir nicht mal mehr die Getreidesorten auseinanderhalten.

Auflösung: Bussard. Bild: dpa

„Felder und Bäume wollen mich nichts lehren“, heißt es in Platons Phaidros-Dialog aus dem Jahr 370 v. Chr., „wohl aber die Menschen in der Stadt“. Bereits in der Antike gibt es die Faszination am Naturschönen. Aber sie ist gebrochen von Ironie und der Gewissheit, dass die Natur am Ende zu schön ist, um ganz wahr zu sein.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beklagt eine ganze Armada von Autoren den Verlust der Einheit von Mensch und Natur. Der Siegeszug der Technik und die Dynamisierung des Lebens schaffen den Nährboden für die Faszination der Verlangsamung.

Und doch, etwa in Brechts Gedichten, beharrt man darauf, die Natur durch rauchende Schornsteine auf Hüttendächern und Sitzbänke vor dem Haus zu „brechen“. Die Natur ist nicht gut, lautet die Botschaft, wenn sie ohne den Menschen und seine Spuren ist.

Und heute? Wer sich die Selbstsicherheit der Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte unter dem Gesichtspunkt des Naturbildes ansieht, bekommt den Eindruck, dass wir über vieles reden: über Szenarien und Modelle, Reserven und Ressourcen, über Ängste und Projektionen, Handlungsanweisungen und Politik – aber kaum noch über Natur selbst.

Gott und Natur

Diese Entkoppelung ist durchaus eine neue, säkulare Wendung. Über zwei Jahrtausende blickten die Menschen in den Kosmos, um sich selbst zu verstehen und über die Natur das Göttliche im Weltgefüge zu verorten. Der Blick „nach oben“ lehrte Bescheidenheit, Demut, Besonnenheit, auch Gelassenheit.

Würden wir dies etwa der Klimaforschung trotz ihrer Verdienste heute uneingeschränkt attestieren? Auch der naturwissenschaftliche Durchbruch am Beginn des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Grenzen der Determinierbarkeit zu erkennen, das Moment des Zufalls. Zur Naturwissenschaft gehören die „Relativität“, „Unschärfe“, „Unsicherheit“.

Es lohnt sich, die heute so breit behauptete Anteilnahme an der Natur im Zusammenhang mit der Beschleunigung unseres Lebens, mit Digitalität und Globalisierung zu sehen. Mit der Unsicherheit des Einzelnen in einer Gesellschaft, die von der Bildung bis zur Nachhaltigkeit zunehmend alles privatisiert.

Während die Welt schneller und komplexer wird, entdecken wir Attribute wie Harmonie, Stabilität und Kontinuität, den Abschied vom Überfluss – Attribute, die wir fälschlicherweise mit Natur assoziieren. Tatsächlich waren wir von einer „ganzheitlichen“ Wahrnehmung der Natur in all ihren Facetten (auch den brutalen Seiten unserer Natur, Demenz, Krebs, wiederkehrenden Masern, den Grenzen der Fertilität) noch nie so entfernt wie heute. Und man kann fragen, ob ein dialektischer Zusammenhang zwischen beiden Extremen besteht.

Junge Väter wie Fallschirmjäger

Denn Ambivalenzen gibt es zuhauf: Während Jack Wolfskin oder Vaude-Jacken das Antlitz der Städte hunderttausendfach prägen, um gegen einen plötzlichen Regenguss auf dem Rad oder am Spielplatz gewappnet zu sein, und junge Väter beim Wandern wie Fallschirmjäger aussehen, kommt uns vor lauter Inszenierung die Natur der Natur abhanden. Unser Blick auf das Grüne ist so gut wie immer aus einer zivilisatorischen Umgebung heraus gewählt. Deshalb suchen wir zielsicher das „Andere“.

Während vor 100 Jahren noch knapp jeder zweite Deutsche in der Landwirtschaft beschäftigt war und wusste, was Krautfäule ist oder wie der Leib eines geschlachteten Tieres dampft, sind es heute knapp zwei Prozent. Der moderne Bauer verblüfft uns jetzt mit Milchrobotern, die er mit dem iPhone steuert; mit Spitzenkühen, die 30 Liter Milch am Tag geben. Und mit dem kalten ökonomischen Kalkül seiner Unterstützung der Biomasse nach den Möglichkeiten des Erneuerbare Energien-Gesetzes.

Uns fehlt das Konkrete – und wir leben kaum im Jetzt, sondern mit sorgenvollem Blick auf die kommenden ökologischen Krisen im Jahr 2030 oder später. Unsere Informationsgewissheit ist groß genug, um den menschlichen Einfluss auf die Welt dabei permanent zu überschätzen. Dies verkennt nicht den Schaden, den der Mensch anrichtet.

Aber die reflexhafte Reaktion auf die jüngsten Hochwasser offenbart eine Hybris der eigenen Art: Da wird jedes Hochwasser sofort der globalen Klimakatastrophe angerechnet. Dass aber die Natur ein Eigenleben hat, dass es auch früher schon Hochwasser gab – dieses Gefühl für die Natur ist den meisten längst verloren gegangen.

Mit der Natur im Kleinen haben wir es trotz aller „regional“- und „saisonal“-Schilder in Bio-Märkten nicht mehr so, ein Ergebnis der Verstädterung und Arbeitsteiligkeit der Gesellschaft. Hand aufs Herz: Erkennen Sie oder Ihre Kinder noch die Hauptgetreidesorten oder die Flugbilder von Milan, Rohrweihe und Bussard? Wissen Sie um den Unterschied zwischen Schleie und Karausche, die Tümpel und Seen bevölkern? Haben Sie diese alten Namen auch nur annähernd so häufig gehört wie „CO2“, „Energiewende“ oder „Faktor 4“?

Eine Studie von „Tierärzte ohne Grenzen“ offenbarte bereits 2001, wie Kinder Natur wahrnehmen. Im direkten Vergleich mit Erst- bis Sechstklässlern aus Nairobi malten nur 17 Prozent der Hannoveraner Schüler beim Stichwort „Nutztiere“ auch wirklich Nutztiere. Hauptsächlich brachten sie Wellensittiche, Katzen und Hunde zu Papier. Bei den Kindern aus Nairobi waren es hingegen 85 Prozent, die Rinder und Ziegen malten.

So ist es wohl seit Phaidros: Paradoxerweise leben alle, die am meisten über Natur reden, von virtuellen Naturbildern. Insofern hat der biedermeierliche Shift in Richtung Landlust – abgesehen von seiner sozialen Schieflage – vielleicht sein Gutes, können Stockbrotbraten, Ponyreiten, Bio-Höfe in der Uckermark und die Familienbeilagen des Berliner Stadtmagazins zitty vielleicht helfen, den Blick für das Kleine und Nahe neu zu schärfen.

Es ist unübersehbar, dass das globale Zeitalter eine Epoche nach sich zieht, die von der Magie der Beschaulichkeit geprägt ist. Ich habe früher viel geangelt. Ein Rezensent meines letzten Buches, der sonst wenig Gutes darin fand, formulierte den schönen Satz: „Dass er gern angelt, glauben wir ihm. Nur tut es gar nichts zur Sache.“ Vielleicht doch.

Andreas Möller, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 4/13.

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