Standbild: Rätselhafter Kohl
■ "Talk im Turm"
„Talk im Turm“, Sonntag, 22.15 Uhr, Sat.1
Eine Analyse des „Phänomens Kohl“ wollte man leisten; mit „Freunden und Kritikern des Kanzlers“ klären, warum die „Machtmaschine Kohl“ (Spiegel) so viel Ansehen genießt. Der Blick auf die Talk-Besetzung allerdings enttäuschte uns ein wenig: Kein wirklicher Kohl-Exeget war mit von der Partie, schon gar nicht Eckhard Henscheid, Verfasser einer überaus sensiblen Kohl-Biographie („diese Katastrophengestalt gemahnt gar nicht so sehr an eine Birne, sondern [...] viel eher an einen Flaschenbovist“). Geladen waren statt dessen: als Anhänger die Meinungsforscherin Noelle- Neumann, die in blanker Senilität herumtrompetete, der Kanzler habe 1990 an seine eigenen Wahlkampfversprecher geglaubt und würde außerdem „die Deutschen lieben“; die passionierte Schachgroßmeisterin Gertrud Höhler (ohne Abel!), die Noelle-Neumann rhetorisch versierter beistand, und Helmut Markwort, dessen banale Einwürfe den Verdacht nahelegten, daß er sein unsägliches „Tagebuch“ in Focus tatsächlich selbst schreibt. Die Kritik am „pfälzischen Überhammer“ (Henscheid) wurde vertreten vom Psychoanalytiker Maaz, der das Wahlverhalten der Deutschen ständig auf einen Vaterkonflikt zurückführen wollte, zudem vom Journalisten Klaus Dreher (SZ) und der beschlagenen Politologin Gesine Schwan.
Um es vorwegzunehmen, auch unter der Leitung des schlauen Erich Böhme konnte „das Rätsel Kohl“ (Die Zeit) nicht gelöst werden. Nicht, daß wir wirklich damit gerechnet hätten. Wäre ja auch zu toll, wenn das Mysterium des „pfälzischen Gesamtkunstwerks“ (Joschka Fischer) sonntags abends vor Millionen von Zuschauern vollständig gelüftet würde. Nein; aber etwas mehr hatten wir uns denn doch versprochen. Eine Erklärung, die darüber hinausgeht, zu konstatieren, die Opposition verfüge über „keine visuelle Herausforderung“ für Helmut K. (Ziege! Rasieren!). Einen dezenten Hinweis darauf, warum der „berühmte große Tölpelkanzler“ (Joseph von Westphalen) in nennenswerten Wählerkreisen immer noch in Ansehen steht. Nun ja, eine nebulöse Andeutung vielleicht nur, warum Helmut Kohl überhaupt Bundeskanzler geworden ist, wo er nach Angaben seines Biographen Henscheid doch Reiter hatte werden wollen. Oder Rangierschaffner oder Platzwart. Martin Sonneborn
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