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■ Stalins UdSSR als nationales IdyllLost Paradise

Seit dem Zerfall der Sowjetunion redet man von dem Zusammenbruch des letzten Kolonialreiches und dem Ende des Völkergefängnisses. Aber glich die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nicht einer glücklichen Familie? Die Völker standen doch tatsächlich in einer ehelichen, geradezu sexuellen Beziehung zueinander. Nicht ohne Grund illustrierte die sowjetische Propaganda die These von der „intensiveren Annäherung der Nationen im Sozialismus“ mit leidenschaftlichen Liebesgeschichten, und die Liebe kennt ja bekanntlich keine Grenzen. Zum Beispiel verliebt sich in dem berühmten Film der Stalinzeit „Die Schweinepflegerin und der Hirt“ eine russische Schweinewärterin in einen kaukasischen Schafzüchter. Zuerst können sie sich nur schwer verständigen, weil er kaum Russisch spricht und für die Liebesbriefe kommt nur sein Awarisch in Frage. Aber bald überwindet die Liebe zweier „typischer Menschen aus dem Volk“ alle Hindernisse, und die Geschichte endet in einem bukolischen Idyll.

Mochte die Sowjetunion gegenüber der Außenwelt mit noch so dickem Stacheldraht umwickelt sein, im Innern fühlten sich die einzelnen Nationen keineswegs als Insassen eines „Völkergefängnises“. Für die Sowjetmenschen war die Union eine ganze Welt und ein vollwertiger Ersatz des restlichen Globus. Die sowjetische multikulturelle Gesellschaft war selbstgenügsam.

Die liebevollen Armenier mit ihrem berühmten Kognak „Achtamar“ ersetzten die Franzosen. Das ganze Land übernahm das georgische Tischritual mit einem „Tamada“, der am Tisch regiert und Toaste ausbringt. Alle, von der Insel Sachalin bis Weißrußland, tranken georgische Weine, allen voran Stalins Lieblingssorte, den halbsüßen „Kinsmarauli“. Die Georgier waren mit ihrer traditionellen Gastfreundschaft und ihrer Liebe zur Großfamilie die sowjetischen Italiener. Und die Sowjetunion selbst – war sie nicht die Großfamilie mit dem „Vater der Völker“ Joseph Stalin an der Spitze?

Hinter der sowjetischen Staatsgrenze, hinter dem Schutzstreifen und Stacheldraht war es Schluß mit der Geborgenheit. Ein unbekanntes Universum drohte. Die Ausländer waren für die Sowjetmenschen Andersplanetige, Aliens, von denen man nie wußte, was man zu erwarten hatte. Es war deswegen nur konsequent, daß Stalin die Ehen mit Ausländern verbat. So ein Ausbruch aus der sowjetischen Familie wäre nicht nur ein Höchstverrat gewesen, sondern geradezu ein Ehebruch.

Die Grundlagen der Nationalitätenpolitik der Bolschewiken waren noch vor der Oktoberrevolution festgelegt worden. Lenin setzte sich gegen Sozialdemokraten der II. Internationale für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und Bildung eigner Nationalstaaten ein. Stalin dagegen, der in der ersten sowjetischen Regierung für Nationalitätenpolitik zuständig war, konzentrierte sich mehr auf die Bekämpfung des „bürgerlichen Nationalismus“ in den neuen autonomen und Sowjetrepubliken. Die heutigen willkürlichen Grenzen, mit der berühmten Tabakspfeife durch die große Landkarte im Kreml gezogen, gehen auf seine Rechnung. Dennoch erklärte auch Stalin den „großrussischen Chauvinismus“ für die größte Gefahr.

Dem Marxismus-Leninismus zufolge sollten im Sozialismus alle Nationen erblühen und sich immer intensiver einander annähern, bis sie im Kommunismus schließlich miteinander verschmolzen. Schon bei Stalins Nachfolgern wurde der letzte Schritt in diese Richtung gemacht. Man erklärte: während des Großen Vaterländischen Krieges und später beim Aufbau der ersten Stufe des Sozialismus entstünde eine „neue welthistorische Gemeinschaftlichkeit – das Sowjetvolk“ mit seinem „sowjetischen Patriotismus und proletarischem Internationalismus“.

Dieses Monster von einem ideologischen Begriff wurde für die Nachkriegsgeneration die wichtigste Realität. Mit richtiger Sehnsucht blickt man jetzt auf das verlorene nationale Paradies zurück. Anatolij Jakobson, ein frischer israelischer Repatriant aus der Ukraine, erzählt: „Auch früher hatte man mich ab und zu aufgefordert, nach Israel abzuhauen. Aber ich konnte immer antworten: 'Halt die Fresse, du bist nicht zu Hause! Hier ist mein Land, die Sowjetunion. Ich bin Lenin und den Kommunisten für dieses Land dankbar, mein Großvater hat im Bürgerkrieg und mein Vater im Vaterländischen Krieg dafür gekämpft, und es gehört keiner einzigen Nation!‘ Ich wollte nie auswandern, aber jetzt sind mir Rußland und die Ukraine genauso fremd wie Israel, und ich wähle einfach, wo das Leben satter ist. Eine Heimat habe ich nicht mehr.“

Natürlich gab es trotz der versprochenen nationalen Verschmelzung starke Aversionen unter den Familienmitgliedern, Antipathien gegenüber Rußland als dem älteren Bruder und die gemeinsame Aversion gegen die Juden, diese schwarzen Familienschafe. Eine offiziell anerkannte dominierende Nation gab es dennoch nicht. Mochten die Russen bei sich zu Hause auch die Stärksten sein, in den anderen Sowjetrepubliken, in den autonomen Republiken und Territorien waren sie die Minderheit.

Ein Ingenieur in Usbekistan klagte damals, er dürfe nicht ausreisen. „Wieso, bist du denn Jude?“ fragte man ihn. „Nein, ich bin Russe.“ Nationale Repression war ambivalent und dadurch relativiert. Jetzt, seitdem das fragile Gleichgewicht zwischen Metropole und Provinz zerstört ist und das brüderliche Völkeridyll nicht mehr deklariert wird, lassen sich die Russen in Lettland als Ukrainer oder sogar als Juden registrieren, so schutzlos stehen sie vor rachsüchtigen nationalistischen Ressentiments da.

Alle Ausbrüche der nationalen Unterdrückung in der Sowjetunion, auch die kollektive Verfolgung ganzer Verräter-Völker, sind nicht mit der Unterdrückungspraxis Nazideutschlands gegenüber den versklavten Nationen vergleichbar. Hinter der Verfolgung dieser Völker in der Sowjetunion steckte kein nationalistischer Irrationalismus. Man behandelte sie nur, wie die ungehorsamen Söhne in patriarchalischen Großfamilien behandelt wurden: der Familienvater durfte sie prügeln und einsperren. Genau das tat Stalin mit den zu Unruhen neigenden kaukasischen Völkern, und genau das wollte er mit den undisziplinierten Juden machen: sie in ihrer eigenen kleinen Republik im Fernen Osten zu sammeln und einzusperren und so in ein „normales“ sowjetisches Volk zu verwandeln.

Es ging nicht um die Vernichtung eines Volkes, sondern um die Erziehung der ungehorsamen Familienmitglieder. Die ideologische Totalität in der sowjetischen Gesellschaft hatte paradoxerweise mindestens eine positive Folge: die Ideologie suggerierte das Bild der „einträchtigen Familie der sowjetischen Völker“. Diese Suggestion wurde für diese Völker viel realer als ihre eigenen nationalen Identitäten. Die heutigen blutigen nationalen Konflikte haben meistens ihren Ursprung in der vorsowjetischen Geschichte, während der Sowjetzeit waren sie irrelevant. Die hypnotische Suggestion der Bolschewiken vertrieb auf siebzig Jahre den bösen Geist des Nationalismus. Jetzt kehrt er zurück. Boris Schumatsky, Moskau

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