Sprache im Dokumentarfilm: Hierarchie der Töne
Der Originalton ist Fetisch und Beglaubigungswaffe: Ein Symposium in Köln dachte über Sprache und Sprechen im neueren Dokumentarfilm nach.
Am Anfang war der Schall. In der pränatalen Entwicklung des Menschen entwickelt sich der Hörsinn vor der Fähigkeit zum Sehen. Im Kino aber war zuerst das Bild, auch wenn es fast von Anfang an von Musik und geschriebener Sprache in Form von Zwischentiteln begleitet wurde. Jetzt, 60 Jahre nach dem Einfall des gesprochenen Worts in den Stummfilms, scheint der Schock des Entsetzens über diese Übernahme immer noch mitzuschwingen im Beharren auf der Hierarchie des Bildes vor dem Ton. Das betrifft den Spielfilm vor allem. Doch auch beim Dokumentarfilm gibt es in Abgrenzung zu den als journalistisch verdammten Fernsehformen einen weitgehenden Konsens, der talking heads und Kommentar als unfilmisch verdammt und den aus dem Bild gesprochenen Originalton als Authentizitätsfaktor fetischisiert.
Dass solch beschränkte Sicht auch die ästhetischen Differenzierungen des Bild/Ton-Verhältnisses nur beschränkt wahrnehmen lässt, war eine Grundthese des diesjährigen Herbstsymposiums der Dokumentarfilminitiative NRW. "Sprache und Sprechen im Dokumentarfilm", so der umständlich präzise Titel, versammelte zu diesem Zweck ein gutes Dutzend Dokumentaristen, Journalisten und Dokumentarfilm-Aficionados im Kinosaal des Kölner Museums Ludwig, um bei Präsentationen und Filmvorführungen den Stand der Dinge zu erkunden.
Historisch gründet die dokumentarische Jetztzeit in den End-50er-Jahren, als die Entwicklung der schallgedämmten Handkamera erstmals die synchrone Aufnahme von Bild und Ton erlaubte. Mit dem Direktton kam das "direct cinema", das statt der auktorialen Sprecherstimme von Wochenschauen und Kulturfilmen den vom stummen Objekt zum sprechenden Subjekt gewordenen Menschen in den Mittelpunkt stellte - und damit bald auch die Vorstellung, der Dokumentarist könnte so denen eine Stimme geben, die sonst nie gehört wurden. Im YouTube-Zeitalter ist solche Vertreterschaft weder nötig noch erwünscht. Und im Fernsehen ist der O-Ton längst zur beliebig einsetzbaren Beglaubigungswaffe geworden. Beim Dokumentarfilm ist er fast schon ein Dogma, beispielhaft umgesetzt etwa in Bettina Blümners "Prinzessinnenbad", der mit dem "Ich komm aus Kreuzberg, du Muschi"-Sound seiner drei Heldinnen bundesweit Karriere machte.
Dass auch Aussagen in eigener Sache ambivalente Züge haben, betonte in Köln die Filmemacherin Karin Jurschick, die für ihren Film "Die Helfer und die Frauen" bosnische Zwangsprostituierte vor die Kamera bat. Eine Interviewsituation, die der eines Polizeiverhör beängstigend ähnlich ist: Es werden sachdienliche Aussagen erwartet, die Machtverhältnisse vor dem Mikrofon sind klar hierarchisch verteilt. Auch deshalb hat Jurschick die Aussagen der Frauen später im Film als Texttafeln wiedergegeben, eine nur scheinbar formale Entscheidung, die sie gegen Widerstand der Redaktion durchsetzen musste.
Theoretisch können "Worte (...) auf hundertfache Weise mit dem Film in Verbindung treten", wie es Alexander Kluge, Edgar Reitz und Wilfried Reinke in einem Aufsatz zu "Wort und Film" aus dem Jahr 1965 erläutern. Praktisch heißt das: O-Ton und klassischer Kommentar sind nur zwei dieser möglichen Verbindungen, die sich im weiten Feld zwischen tautologischer Deckung und freier Souveränität bewegen. Interessant wird es dabei, wenn Sprachtext und auch Bildebene in ihrer Materialität ernstgenommen werden, wie etwa in Philipp Scheffners "The Halfmoon Files", der aus der Recherche zu einem anderthalbminütigen Tondokument eine hochpolitische Geistergeschichte meißelt. Die Bedeutung der konkreten Arbeit am Detail war auch in einem frühen Film des bekanntesten deutschen Vertreters eines "direct cinema" zu sehen. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Kollegen Leacock, Maysles oder Pennebaker hat Klaus Wildenhahn seinen Filmen mit persönlich eingesprochenem Kommentar aber immer einen ausdrücklich subjektiven Stempel gegeben. "Smith, James O. - Organist, USA" (1965/66) zeigte brillant, wie solch ein scheinbar nur aus der technischen Notwendigkeit der Übersetzung aus dem Amerikanischen geborener Kommentar zu einer bereichernden Bedeutungsebene wird.
Wildenhahn übersetzt und spricht die porträtierten Jazzmusiker selbst in musikalisch verdichteter Form und baut auch noch ein paar Erläuterungen ein. Die setzt er nicht über den O-Ton, sondern an Stellen, wo die Bilder zurücktreten, mal ist das vor, mal nach der übersetzten Rede. Ein zusätzlicher synkopischer Akzent. Und während beim mittlerweile üblichen Voice-over den Sprechenden langsam die Stimme weggedreht wird, funktioniert hier die Übersetzung als Verstärker, der auf Kommendes hinweist oder schon Gehörtes noch einmal akzentuiert.
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