: Sowjetische Delegiertenwahlen: „Überheblich und schamlos!“
Moskau (rtr/taz) - Die Delegiertenwahlen zur Allunionskonferenz der KPdSU Ende Juni versetzen die sowjetische Öffentlichkeit zunehmend in Erregung - bei den Wahlen an der Moskauer Universität kam es gar zu erfolgreichen Tumulten der Studenten, die die Kandidatur eines Gorbatschow– Anhängers erzwangen und ihm zu einem triumphalen Wahlsieg verhalfen. Als offizielle Kandidaten waren nur Universitäts–Direktor Logunow und der Parteichef der Universität aufgestellt worden. Dies rief entschiedenen Widerstand der Studenten hervor; die Tumulte legten sich erst, nachdem der Wirtschaftler und Reformanhänger Gawriil Popow kandidieren konnte - und er erhielt in geheimer Wahl über 90 Prozent der Stimmen. Auch Logunow wurde gewählt, der Parteichef der Universität dagegen wurde mit einem Prozent der Stimmen abgeschmettert. In der Zeitung des kommunistischen Jugendverbands Komsomolskaja Prawda schrieb Popow, er habe noch nie solch „unverzeihliche, überhebliche und schamlose“ Anstrengungen gesehen, die Meinung der Parteimitglieder zu mißachten. Die lokalen Parteiinstanzen hätten nur Spitzenfunktionäre zur Stimmabgabe in die Universität geschickt und gewöhnliche Mitglieder vom Entscheidungsprozeß ausgeschlossen - in diesem Falle erfolglos. Aus der sibirischen Stadt Omsk berichtete hingegen die Zeitung Sozialistitscheskaja Industrija, die Parteifunktionäre hätten am Donnerstag ihre Kandidatenliste vorgelegt, ohne Diskussionen darüber zuzulassen.
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