■ Sommer in Grönland: Finken im Sturm
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Die Umrisse Islands, auf das obere Drittel der Silhouette eines menschlichen Kopfes plaziert, ergeben eine hübsche Frisur. Verfährt man gleichermaßen mit Grönland, entsteht ein monströses Gebilde – so groß ist die größte Insel der Welt. (Eigentlich ist Amerika auch eine Insel, aber wahrscheinlich schon wieder zu groß, um „Insel“ genannt zu werden.)
In Grönland ist jetzt Hochsommer. Millionen blutsaugender Stechmücken jagen durch die eisfreien Küstenzonen. Die Frau im Reisebüro an der Reykjaviker Austurstræti war so nett und hat es mir verraten. „Nehmen Sie auf jeden Fall schon ein paar Tage vorher Tabletten ein“, rät sie mir.
Der Flug führt von Keflavik nach Kangerlussvag. Eine Eskimofrau in traditioneller Tracht überreicht vor dem Flughafengebäude den Ankommenden ein Zertifikat: „Hiermit wird bestätigt, daß Sie den Polarkreis überquert haben.“
Der Weiterflug nach Narsaqaq wird immer wieder verschoben. Schließlich wird bekanntgegeben: Aufgrund starken Sturms müssen die Fluggäste zurück nach Keflavik – zum Übernachten. Morgen geht es dann von dort aus direkt nach Narsaqaq.
Der Versuch am nächsten Tag gelingt. Von Narsaqaq bringt ein Schiff die Reisenden in dreistündiger Fahrt nach Narsaq (1.800 EinwohnerInnen). Aus dem Wasser ragen riesengroße hell- und dunkelblaue Eisberge. Sie sehen aus wie Softeis, Mandelsplitterpralinés in weißer Schokolade oder Baumkuchenstücke.
„Equtigssat kisimik Anartarfimut lgineqartasaput“ steht an der Schiffstoilette. Unsere grönländisch-isländische Reisebegleiterin Inga übersetzt: „Bitte nur Klosettpapier in die Toilette werfen.“
Meine Wohnstätte, das Hotel „Inuili“ in Narsaq, ist eigentlich ein Ausbildungszentrum für Köche. Die Zimmer sind für auswärtige Lehrlinge eingerichtet und dienen in den Sommerferien als Touristenunterkunft. Ein paar Lehrlinge sind schon da. Als meine Zimmergenossin, die Künstlerin Akido Hada, ihre beiden braunen Stoffkaninchen aus dem Fenster hält, um sie etwas frische Luft schnappen zu lassen, bleiben zwei Mädchen interessiert stehen. Sie fragen uns nach unseren Namen und woher wir kommen und stellen sich dann vor. Eine heißt Lulu, die andere Anna. Lulu kommt aus dem Süden, aus Qaqortoq, während Anna aus Qaanaaq kommt, dem nördlichsten bewohnten Ort der Welt. Wir lernen, daß „Asavakkit“ „Ich liebe dich“ und „Innugujoq“ etwa „Hey!“ heißt.
Am kommenden Tag steht eine 18-Kilometer-Wanderung auf meinem Programm. Die dabei auflauernden Mücken werden – bis auf einige wenige – mit bloßer Hand getötet. Am Wegesrand leuchtet rosarot das arktische Weidenröschen. Zahlreiche Birken- und Steinpilze ragen aus der mit Krähen- und Blaubeeren überzogenen Tundra. Ein kleiner Polarfink singt ein zartes, eintöniges Lied. Und plötzlich entdecke ich im Gesträuch der kriechenden arktischen Birke „Lencorchis albida“, eine von fünf in Grönland vorkommenden Orchideenarten.
Den Abend des letzten Tages beschließe ich in der Kneipe „Ini“. „Was heißt das?“, frage ich den Eigentümer. „Place“, antwortet er. Aus den Boxen dröhnt Techno, und ein paar junge Eskimos tanzen im fast leeren Saal.
Morgen, auf dem Rückweg zum Flughafen, werden wir die Ruinen der Nordleute, der Wikinger, besichtigen, die von 984 an einige Jahrhunderte in Grönland lebten und aus immer noch ungeklärter Ursache um das Jahr 1500 spurlos verschwunden sind. Wolfgang Müller
Ende...
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