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■ Sommer auf IslandBlue tit

Ab heute werden wir regelmäßig eine Kolumne mit Reisetexten von Wolfgang Müller aus Island veröffentlichen. Auch dort ist Sommer.

„Was ist das für ein hübscher Vogel mit grüner Raupe im Schnabel, der in den Nistkasten an deinem Fenster schlüpft?“

Die amerikanische Fotografin Nan Goldin ist mein Gast. Wir essen Forelle blau mit Petersilienkartoffeln. Im deutsch-englischen Wörterbuch suche und finde ich das entsprechende Wort: „blue tit“. Nan lacht auf: „Blue tit? That's not true!“ Da es in den USA diesen Vogel nicht gibt, hört sie diesen Namen wohl zum ersten Mal.

„Warum denn nicht? Blaubrust oder so. Könnte entstanden sein wie ,Hausrotschwanz‘ oder ,Rotkehlchen‘“, gebe ich zu bedenken. „Aber ,tit‘ ist reine Umgangssprache“, wirft Nan ein.

Außerdem fällt mir jetzt auf, daß männliche wie weibliche Blaumeisen natürlich eine gelbe und keine blaue Brust haben. Wir schlagen im etymologischen Wörterbuch nach. Da steht unter „blue tit“: ,tit‘ = altisländisch von ,tittr‘ = akrobatisch; kleine gewandte, gut kletternde Vögel. Tags darauf treffe ich den in Berlin lebenden isländischen Kunstbuchverleger Helgi Skuta Helgason. Er weiß mir zu berichten, daß isländische Eltern das Geschlechtsteil ihres vorpubertären Sohnes liebevoll mit „tittlingur“ titulieren.

Auf jeden Fall gibt es in Island keine Meisen. Allerdings gibt es welche in Norwegen, von wo die Isländer ursprünglich gekommen sind. Mitgenommen haben sie dabei ihre Sprache, die seit über tausend Jahren nahezu unverändert geblieben ist. So ist dieses Land auch das einzige der Welt, in dem das Telefonbuch alphabetisch nach Vornamen geordnet ist. Der Familienname setzt sich aus dem Vornamen des Vaters und dem entsprechenden Suffix – son bei einem Mann oder dóttir bei einer Frau – zusammen. In einer Familie können also bis zu vier unterschiedliche Familiennamen vorkommen.

Zwei Wochen später. 15. Juni 1994, 20.50 Uhr Ortszeit. Am „flughöfn Keflavik“ erwartet mich Astridur Olafsdóttir, Künstlerin und Schriftstellerin. Im Haus der Bildhauervereinigung Reykjaviks in der Nýlendugata hat sie für mich eine Wohnung organisiert.

Da Astridurs Auto, ein alter Lada, etwas langsam ist, warten wir auf dem Parkplatz vor dem Flughafen, bis alle gerade angekommenen Passagiere mit Auto und Bus weggefahren sind. „So wird mich niemand mit Hupen belästigen“, meint Astridur und verweist darauf, daß die Straße nach Reykjavik nur einspurig befahren werden kann.

Auf der Fahrt dorthin erzählt sie mir von der Sprachkommission, die über neue Wörter beziehungsweise Fremdwörter berät, die ins Isländische übertragen werden sollen. „Man kann dort auch anrufen, wenn man etwas wissen will“, ergänzt Astridur.

Für das Wort „Telefon“ haben die Kommissionsmitglieder „sími“ kreiert. Das heißt eigentlich „Faden“. „Computer“ heißt „tölva“, eine Kombination aus „völva“ (Prophetin) und „tala“ (Zahl).

„Kann man da einfach hingehen und um die Kreation eines im Isländischen fehlenden Wortes bitten?“ möchte ich wissen. „Aber sicher. Man ist dort solchen Anliegen gegenüber sehr aufgeschlossen.“ Wolfgang Müller

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