: So verloren wie das Paradies
Christof Türcke will den Begriff Heimat rehabilitieren und kritisiert die Nation als ideologische Falle. Das ist zwar sympathisch, wird aber diesen paradoxen Phänomenen nicht gerecht
Christoph Türcke hat einen kleinen Essay über ein großes Thema geschrieben: Heimat. Dieses Wort ist umwölkt von Sehnsucht und gleichzeitig demoliert von politisch-aggressiver Indienstnahme. Man kann es, auch 60 Jahre nach den Nazis, kaum naiv benutzen. Türcke versucht diesen Spannungsbogen auszumessen – um das Wort am Ende, entschärft in einer „kritischen Heimatkunde“, zu retten.
Der Wunsch nach Heimat erscheint Türcke als menschliches Grundbedürfnis. Es fußt auf der Erfahrung der Geburt – mithin des Verlustes des Geborgenen. In der Geburt zeigt sich, wie Türcke zutreffend bemerkt, das Paradox der Heimat. Erst nach der Geburt entwickelt das Baby jene Sinne, mit denen es hätte wahrnehmen können, was es verlor. Heimat ist stets das Verlorene, davon erzählt auch die Bibel. „Erst nachträglich, als verspieltes, verlorenes, ist das Paradies Paradies“, so Türcke. Heimat, Kindheit und Paradies verbindet, dass sie erst im Rückblick entstehen.
Leider hält sich Türcke nur knapp bei dem Bedürfnis nach Heimat auf. Er möchte auf anderes hinaus – eine Botschaft. Er will Heimat und Ratio verknüpfen. „Entscheidend für einen vernünftigen Umgang mit Heimat ist, dass sich ihre Überschätzung zur Schätzung mäßigt“, schreibt er. Das ist irgendwie richtig, aber es klingt etwas lehrerhaft. Ähnliches gilt für die zentrale Forderung dieses Essays – nämlich diese vernunftgezügelte Heimat entschlossen von dem „nationalstaatlichen Virus“ zu trennen. Heimat erscheint Türcke dabei als Nahbereich, als Konkretes – während alles, was mit Nation assoziiert ist, als Verbogenes, Entfremdetes gelesen wird. Die Nation ist hier dürftiger Religionsersatz, eine ideologische Falle, die den Einzelnen zu Unrecht „die Brust schwellen lässt“ (Türcke) und dafür im Notfall, dem Krieg, verheizt.
Das liest sich alles recht sympathisch – und nicht unbekannt. Es ist die Zusammenfassung einer an der Kritischen Theorie geschulten linken Position. Vertraute Gedanken, gemischte Gefühle. Kann man 2006 so unverwandt Heimat gegen Nation ausspielen?
Auch Türcke weiß natürlich, dass sich Fundamentales verändert hat. Die Nation ist im globalisierten Kapitalismus auf dem Rückzug. Dafür gewinnen die Regionen und das Supranationale an Bedeutung. Auch diese Analyse ist bekannt – aber sie ist eher die Frage als die Antwort. Warum zum Beispiel bleiben deutsche Bürger bei Kommunal- und Landtagswahlen demonstrativ zu Hause, während bei Bundestagswahlen fast 80 Prozent wählen gehen? Wie verträgt sich dies mit der These, dass die Nation zwischen Region und EU oder globalen Konzernen zerrieben wird?
Kurzum: Region, Heimat und Nation sind verwobener, als es dieser Essay ahnen lässt. Mit der Teilung in gut (Heimat) und schlecht (Nation) ist man vielleicht auf der sicheren Seite, aber noch längst nicht schlauer. Türckes linkstraditionelle Kritik der Nation wirkt eher routiniert als erhellend. Diese Kritik war zutreffend im Zeitalter der europäischen Kriege bis 1945, doch für die EU-Wirklichkeit hat Türcke schlicht keinen Begriff. So unterschätzt er die Hartnäckigkeit des Nationalen. Ins Auge springt dies, wenn der Autor darlegt, warum Fußballnationalmannschaften an Bedeutung verlieren müssen.
Im globalen Fußballgeschäft regiert die Champions League, die großen Vereine spielen längst besser als jede Nationalelf. „Die Nation hebt nicht mehr die Herzen wie einst“, weiß Türcke. So müsste es sein – bei Nation und Nationalelf –, aber so ist es nicht. Die Leidenschaft für die Nationalelf verschwindet nicht in Zeiten, in denen Arsenal London und Energie Cottbus mal ganz ohne einheimischen Spieler auflaufen. Ja, vielleicht wächst die Leidenschaft fürs Nationale gerade deshalb. Ähnlich verhält es sich mit dem Nationalstaat, der einerseits an Macht verliert – und trotzdem für die Bürger die Bühne politischer und kollektiver Selbstverständigung bleibt.
Nation ist ein ebenso paradoxes Phänomen wie Heimat. Türcke aber will die Nation nur verurteilen und verabschieden. Dabei müsste es doch darum gehen zu verstehen, warum die Nation noch im Zerfall die politischen Leidenschaften fesselt. STEFAN REINECKE
Christoph Türcke: „Heimat. Eine Rehabilitierung“. zu Klampen, Berlin 2006, 80 Seiten, 9,80 Euro