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Smartphones aus Rüben

Am Black Friday sind heuer leere Verpackungen prestigeträchtiger Artikel hochgefragt. Neues vom Kampftag der Verbraucherklasse

Hochwertige Kartons sind der Renner Foto: Stefan Boness/Ipon

Von Christian Bartel

„Toll! Von Rüben kann ich gar nicht genug bekommen!“, juchzt Cheyenne-Luise Wöhrmann, als sie den Grabbeltisch mit dem Wurzelgemüse durchwühlt, während zahlungskräftigere Kunden den Elektromarkt am Black Friday wie gewohnt mit Flachbildschirmen und Kaffeevollautomaten verlassen.

Der Kampftag der Verbraucherklasse läutet traditionell das Vorweihnachtsgeschäft mit seinen einzigartigen Sonderangeboten ein, die ebenso am darauf folgenden Manic Monday, dem Ruby Tuesday, dem Wacky Wednesday und den anderen Tagen der Black Week gelten, bis die Preise im heißen Weihnachtsgeschäft des Frantic December noch einmal heruntergesetzt werden.

Im dritten deutschen Rezessionsjahr fällt das Shopping­event mit seinen epischen Rabattschlachten und pittoresken Krawallen in der Kassenschlange für manche Kunden jedoch etwas weniger opulent aus. Damit auch Unterbetuchte die höchsten kapitalistischen Feiertage des Jahres begehen können, hat der Einzelhandel seine Angebote anpassen müssen.

Der Elektromarkt bietet zum Beispiel neben den hochwertigen Highend-Geräten auch günstigere Attrappen aus Sperrholz oder Nordkorea an. Manche Kunden wiederum möchten bloß die leere Verpackung eines prestigesträchtigen Artikels von Apple oder Sony unter den neidischen Augen der Nachbarn nach Hause tragen. Ein Markenkarton ist deswegen schon für fünf Euro und ein blaues Auge zu haben.

Für Verbraucher, die am Black Friday ein gänzlich kostenloses Nahkampferlebnis suchen, hat Marktleiter Rüdiger Dorsen eine Kiste Rüben in den Eingangsbereich geschoben. Keine zwei Minuten nach Marktöffnung ist der Tisch wie leer gefegt, nur ein Blutfleck erinnert noch an das sinnlose Scharmützel.

„Aus den Rüben schnitze ich den Kindern täuschend echte Handys ohne Vertragslaufzeit“, erklärt die alleinerziehende Wöhrmann, die mit ihren vier Kindern zur Miete im Auto ihres Ex-Mannes wohnt. „Das Geld sitzt einfach nicht mehr so locker“, gibt Marktleiter Dorsen zu, während er einen Goldzahn aus dem Mund eines Mittfünfzigers bricht, der sich für einen Stabmixer im Sonderangebot entschieden hatte. Um die grundgesetzlich verankerten Konsumwünsche der Bürger zu erfüllen, werden in den meisten Geschäften neben Zähnen auch Angehörige, Haustiere und Organe in Zahlung genommen.

„Zum Weihnachtsgeschäft bieten wir maßgeschneiderte Lösungen für alle Kunden an“, beruhigt der Elektromarktleiter. Wir reden mit einem Sechzehnjährigen, der sich für eine neue Gamingkonsole in Schuldknechtschaft begeben will. „Wenn die nächste Generation rauskommt, bin ich vielleicht schon wieder draußen“, hofft der Realschüler, bevor er den Wagen besteigt, der ihn in die Erzgruben bringt.

Doch nicht alle Kunden können am Black Friday ihre Körper oder ihre Freiheit verkaufen. Manche sind einfach nicht attraktiv genug, haben noch Anschlusstermine oder müssen kleine Kinder betreuen. Auch Cheyenne-Luise Wöhrmann entscheidet sich gegen den SuperKidneyDeal. Ihre Niere hat die vierfache Mutter bereits im letzten Jahr für einen Geschirrspüler in Zahlung gegeben.

Außerdem bezieht die Fünfunddreißigjährige ihre Weihnachtsgeschenke wie die meisten Verbraucher längst aus dem Internet. In der Familienkutsche hat die Aufstockerin jetzt sogar einen Logistik-Hub für die Sendungen der gesamten Nachbarschaft eingerichtet.

„Weil es keine Betreuungsangebote gab, war ich viel zu Hause. Und da wird man natürlich zum Freiwild für Paketboten“, erzählt Wöhrmann, der die postalischen Irrläufer eine Karriereoption eröffnet haben. Schon Ende November ist ihr Kofferraum randvoll mit Bestellungen, die sie für Nachbarn, deren Familien und Freunde, aber auch für Menschen aus anderen Vierteln, Städten oder Ländern entgegengenommen hat.

Manche Kunden ohne Bonität verkaufen am Black Friday ihre Körper oder ihre Freiheit

„Höchstens 80 Prozent der Päckchen werden wieder abgeholt“, erklärt die frischgebackene Versandfachfrau, die in der heißen Phase des Weihnachtsgeschäfts täglich von etwa 200 verzweifelten Paketboten ohne Sprach- und Ortskenntnisse aufgesucht wird, um mit einem unleserlichen digitalen Kringel den Erhalt einer Sendung zu quittieren.

„Die Schwierigkeit besteht darin, verderbliche Ware, lebende Tiere und Bomben auszusortieren, bevor sie stinken oder explodieren können. Den Rest verkaufe ich im Internet als generalüberholte Ware auf Refurbished-Portalen, wo sie dann gleich wieder versendet wird. Bei wirklich wertvollen Sendungen ist aber auch mal ein saftiges Lösegeld drin.“

Auf die Kampfangebote vom Elektromarkt ist die aufstrebende Unternehmerin bald sicher nicht mehr angewiesen. Aber wie die meisten Menschen unter vierzig besucht Cheyenne-Luise Wöhrmann das Weihnachtsgeschäft im stationären Handel nur noch aus nostalgischen Gründen. „Für mich kommt erst Festtagsstimmung auf, wenn ich mich wie meine Ahnen und Urahnen in einem total überfüllten Laden um irgendeinen Scheiß kloppen kann, den ich garantiert nicht brauche. Warum also nicht um Rüben?“, fragt sie lachend und wischt sich das Blut von der Lippe.

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