Sinnsuche im Schnee: Wenn der Berg nur leise murmelt
Eine Abfahrtsläuferin, die eigentlich überhaupt keine ist, wechselt unter bajuwarisch-blauem Himmel in die Loipe und stellt fest: Langlauf ist ihr viel zu lang.
Es schien eine so günstige Gelegenheit zu sein. Mal rauskommen aus Berlin, ohne etwas dafür zu bezahlen. Wer kann dazu schon Nein sagen! Angeboten wurde ein Urlaub in Oberbayern und danach, als kleiner Wermutstropfen, der Besuch eines 90. Geburtstags in Salzburg. Ja, das ist toll, rief ich begeistert. Ich bin dabei!
Vielleicht war das Fernsehen schuld an der Schmach, die dieser Urlaub für mich bereithielt. Ich liebe es nämlich, Wintersport vom Sofa aus zu beobachten. Alles gefällt mir, bis auf diese Kombination aus Schießen und Langlauf, die regelmäßig von deutschen Soldaten gewonnen wird. Sportsoldaten.
Aber sonst: Vom Rodelschlittenrausch in engen Eisröhren und noch engeren Anzügen, in denen sogar magersüchtige Burschen aussehen wie dicke Leberwürste, über die Vierschanzentournee bis hin zum Sport der manischen Putzteufel - ich sehe mir alles mit großer Begeisterung an. Die Sportarten wirken so leicht, man braucht nur etwas Überwindung, den Absprung wagen, und schon fliegt man.
Ob im Winter-Sport eine tiefere Sinnbedeutung versteckt ist, habe ich allerdings noch nicht herausgefunden. Dass im normalen sportlichen Betätigen keinerlei Tiefe versteckt ist, weiß ich, seit ich es im Sommer mit Joggen versucht habe. Nach zehn Tagen fiel ich vor Langeweile lang hin. Hat also keinen Sinn.
Der Berg rief nicht besonders laut
Aber vielleicht ist beim Sport in Verbindung mit Schnee und Bergen ja alles ganz anders. Also leitete ich einen Selbstversuch ein und beschloss, in den Alpen Wintersport zu treiben. Der bayerische Bekannte, der natürlich wie alle Süddeutschen sportfanatisch ist, freute sich über den Entschluss. Wir liehen für mich eine Skiausrüstung, er hat natürlich seine eigene, doppelt und dreifach, der ganze Keller seines Hauses ist vollgestopft mit Sportgeräten und dazugehöriger Kleidung, und dann ging es "aufi", der Berg rief. Man konnte sein Rufen nicht besonders gut hören, er war über 2.000 Meter hoch, und im Tal kam nur ein leises Flüstern an. Ich habe es trotzdem vernommen und folgte.
Erst mal mit der Seilbahn zum Gipfel fahren. Zwei meiner sportlichen Mitstreiter, ach was, meiner Gegner konnte ich schon an der Talstation schachmatt setzen, indem ich meine Skier ganz lässig auf der Schulter trug. Eine Vierteldrehung nach rechts, eine nach links, und erledigt! "Ski Heil", rief ich in einem Anfall von Bergfaschismus. "Ski Dank", grölte es zurück. Es geht also nicht um Sport, es ist Krieg. Ab jetzt jeder gegen jeden. Rein in die Seilbahn. Oh, oh, oh, dieser Berg ist aber wirklich ziemlich hoch. So, sind wir jetzt oben? Nein? Das waren erst 300 Höhenmeter von insgesamt 1.400? Gut, dann mache ich jetzt die Augen ganz fest zu und versuche dem Gesicht einen mental konzentrierten Zenausdruck zu verleihen.
Oben angelangt, hieß es aussteigen, einmal Berggipfel rundherum angucken und dann Skier anschnallen. So dachte ich zumindest. Denn Skier anschnallen, wie soll das denn gehen, mit diesen 20-Kilo-Betonschuhen an den Füßen? Das geht gar nicht! Das ist doch ein Foul, mir solche Stiefel anzudrehen. Das gilt nicht. Schiedsrichter! Ach, Sie haben genau die gleichen Stiefel? Ja gut, dann sieht die Sache schon anders aus.
"Dann pflugschreite ich eben"
Ich schaffte es, meine Stiefel in den Skiern zu verankern. Und was muss ich jetzt machen? Ach so, im Pflugschritt parallel zum Anstieg laufen. Kein Problem, kann ich die Skier mal eben ausziehen? Nein? Das macht man nicht? Also wissen Sie, ich wollte mit Eleganz hin- und herwedeln und nicht wie ein Trampeltier im Scherenschritt zur allgemeinen Belustigung antreten. Aber gut, Sie haben es nicht anders gewollt, dann pflugschreite ich eben. Hilfe, ich rutsche, und zwar rückwärts, nicht seitwärts, wo sind die Bremsen, jetzt helfen Sie mir doch mal. Na, sehen Sie, jetzt liege ich hier wie ein dicker Käfer auf dem Rücken im Schnee. Vielen Dank! Aber glauben Sie bloß nicht, so könnten Sie mich loswerden, ich stehe nämlich einfach wieder auf. Gleich. Moment noch. Ich tue nur so, als ob ich nicht hochkomme. Lustig, oder? Ja, ich mache gerne Scherze auf meine Kosten.
1965 geboren, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen: "Bitte nicht freundlich", Verbrecher Verlag, Berlin 2010
Um es kurz zu machen, ich bin keine gute Abfahrtsläuferin. Eigentlich sogar überhaupt keine. Während der Bekannte unermüdlich herumtollte, verbrachte ich den Rest des Tages damit, mich auf der Terrasse des Restaurants, das sich, weil es auf einem Berg steht, "Hütte" nannte, zu betrinken und Menschen über 60 "Ja, das machen Sie schon recht ordentlich, weiter so!" zuzurufen. Kleine Kinder beschimpfte ich, weil sie in einem Affentempo an mir vorbeirasten. Der Sinn von Sport blieb mir verborgen.
Ich war jedoch nicht bereit aufzugeben, und so beschlossen wir, es am nächsten Tag mit Langlauf zu versuchen. Vermutlich liegt da mein wahres Talent und ich erlebe all das, was Sport auslösen soll. Endorphinausschüttungen, mal "den Körper so richtig spüren", sich "einfach gut fühlen", "den Kopf total ausschalten".
Größere Eierstöcke als ein Hamster
Die 20-Kilo-Betonstiefel wurden gegen leichte Schuhe eingetauscht, dann fuhren wir in ein verschneit-verträumtes Seengebiet. Die Sonne schien, der Himmel strahlte bajuwarisch-blau, und bis hierhin war alles fantastisch. Im Fernsehen habe ich mal gehört, dass Langläufer sich manchmal mit den Eierstöcken mongolischer Hamster dopen. Und Eierstöcke, ha! Die habe ich doch selbst im Gepäck, sogar viel größere als Hamster. Da kann doch nichts mehr schiefgehen. Und tatsächlich, es ging gut, sehr gut sogar, immer einen Fuß vor den anderen setzen und dabei mit den kurzen Skiern über die Loipe schleifen. Ideal für Menschen, die von den Eltern immer "Nimm die Füße beim Laufen hoch!" hörten, denn beim Langlauf ist Schlurfen erwünscht.
So, klasse, kann ich, fertig. War schön und hat Spaß gemacht. Dann lasst uns mal wieder nach Hause fahren. Wie, wir haben eben erst angefangen? Ach, das heißt nicht umsonst Langlauf! Gut, dann lauft ihr mal vor, ich bin nämlich mehr der langsame, aber unheimlich zähe Typ. Ihr werdet staunen, nachher, wenn ich wieder Luft bekomme, dann rolle ich das Feld von hinten auf. Nee, echt, geht einfach vor, macht mir wirklich nichts aus. Hey, so wörtlich war das jetzt aber nicht gemeint, ihr könnt mich doch nicht tatsächlich einfach hier liegen lassen. Hilfe!
Nach einer halben Stunde rappelte ich mich wieder auf und war verzweifelt. Es gab keine Möglichkeit, das Auto zu erreichen, ohne noch mindestens eine weitere halbe Stunde auf diesen bescheuerten Skiern um diesen beknackten See zu rutschen. Blöde Natur. Blöder Sport. Nach und nach werde ich von etwa 1.000 Senioren überholt, die mir alle ein "Grüß Gott" entgegenschmetterten. Ja, mach ich gleich, aber wenn ich mit ihm rede, werde ich nicht vergessen zu erzählen, wie man mich hier in dieser Wildnis hat sterben lassen.
Stunden später kam ich am Auto an. War ganz toll, diese Ruhe und das Einswerden mit der Natur, eine große Sache. Zumindest, wenn das Leben ansonsten sehr klein ist. Sinn konnte ich nirgendwo erkennen. Schluss mit den Selbstversuchen, wir waren schließlich noch eingeladen. Zum 90. Geburtstag in einem Seniorenstift. Und dort, in den langen Gängen zwischen dem Frühstücksraum "Mozartstube" und dem Tagesraum "Beethovensaal", da fand ich dann doch noch Sport-Sinn. Und zwar folgenden: Die Letzten werden die Ersten sein. Ohne Probleme eilte ich an den Greisen vorbei, überholte rasant und freute mich jedes Mal, wenn ich einen der Alten fragen konnte: "Und, haben Sie früher auch viel Sport getrieben?" - "Ja, wir waren praktisch jedes Wochenende in den Bergen!", war meist die Antwort. "Sehen Sie, und das haben Sie jetzt davon, ich bin nämlich schneller. Ätsch und grüß Gott", so lief ich mit federnden Schritten an den Menschen vorbei, nicht ohne ihre neiderfüllten Blicke im Rücken zu spüren und zu genießen.
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