piwik no script img

Short Stories from AmericaSchleppgesänge

■ Newt Gingrich als Weihnachtsschreck

Eigentlich sollte ich mich auf das neue Jahr freuen – auf all die anstehenden Rechnungen, besonders für die Kranken- und Berufsunfähigkeitsversicherung, die zu jedem Neujahr ins Haus flattern. Ich dachte, dieses Jahr könnte ich sie vielleicht direkt an Bill und Hillary weiterschicken, aber auch die Briefmarken sind teurer geworden, genauso wie Champagner und Luftschlangen zu Sylvester. Deshalb bleiben die Rechnungen auf meinem Schreibtisch, und meine Gedanken wandern zurück zu jenem unauslotbaren Augenblick im Jahre 1994, als das klassische Weihnachtsgedicht der Vereinigten Staaten umgeschrieben wurde.

Zwar habe ich mich nie für den Sadismus einer Feier erwärmen können, nur weil ein armer Kerl an ein Stück Holz genagelt wurde, oder für das soziale Elend, das schwangere Frauen zwingt, in Ställen zu gebären – aber der unschuldige Charme von „The Night before Christmas“ bezauberte mich doch: Am Abend vor Weihnacht/ Wenn im ganzen Haus/ kein Wesen sich rühret/ nicht mal eine Maus ... So ging das Gedicht früher. Aber jetzt nicht mehr. Unmittelbar vor Weihnachten wurde es umgeschrieben: Am Abend vor Weihnacht/ Wenn im ganzen Haus/ der neue Sprecher sich rühret/ mit Gaben voll Graus ... Im ursprünglichen Gedicht war „Haus“ etwas Gemütliches, mit Teddybären und Lieblingsbüchern. Jetzt bedeutet es natürlich das Repräsentantenhaus des Kongresses der Vereinigten Staaten. „Wesen“ waren alle Geschöpfe in der Spielzeugkiste und dazu ein paar Angstmacher auf dem nächtlichen Weg ins Badezimmer. Heute bedeutet „Sprecher“ den Sprecher des Repräsentantenhauses, die mächtigste Position in diesem Teil des Kongresses, die jetzt Newt Gingrich innehat.

Die neue Fassung des Gedichts wurde überall abgedruckt. Die „Night“ ist tot, schrieb die Presse. Lang lebe „Newt“. Und so werde ich an diesen ersten Tagen im neuen Jahr nur von Newt vor Weihnacht erzählen. Politik und Poesie können damit nur gewinnen.

Der Newt, kurz vor Weihnacht, lieferte als erste seiner Ideen einen Zusatz zur Verfassung, wonach in den öffentlichen Schulen das Schulgebet Pflicht werden soll. In den öffentlichen Schulen war das Gebet bisher verboten, weil die Regierung der Vereinigten Staaten keine Religion mit besonderen Privilegien bedenken darf. Viele Amerikaner waren von Newts Vorschlag beunruhigt und behaupteten, er verstoße gegen ein grundlegendes Axiom einer Demokratie, die weder von Krone noch Kirche beherrscht werde. Da haben sie Newt aber völlig mißverstanden. Bis zu meinem 16. Lebensjahr besuchte ich Schulen, in denen jeden Morgen ein Gottesdienst stattfand; an Feiertagen waren es zwei. Und ich kann mit gutem Gewissen behaupten, daß nichts ein Kind schneller zum Atheisten macht als erzwungene Gottesdienste. Ich empfehle nicht den kurzen, knappen, konfessionsunabhängigen Gruß an Gott, der in Newts Haus derzeit zur Debatte steht. Ich bin für stundenlange, sich dahinschleppende Gesänge, vorzugsweise in fensterlosen Räumen, damit die Kinder Skepsis lernen.

Der Newt brachte als zweite Idee vor, Generalärztin Jocelyn Elders verbreite Sündhaftigkeit im Lande, weil sie auf einer Aids-Konferenz bestätigte, daß Aufklärung über Onanie in die Aids-Verhütungserziehung aufgenommen werden solle. Newt und andere in seinem Hause warfen ihr vor, sie wolle den Schulkindern das Onanieren beibringen, und Präsident Clinton schmiß Elders hinaus. Viele Amerikaner hielten das für eine ungerechte Entscheidung, zumal dadurch den amerikanischen Kindern wichtige Informationen vorenthalten würden. Da haben sie Newt aber gründlich mißverstanden. Bis zu meinem 16. Lebensjahr besuchte ich Schulen, an denen das Verbot der Onanie auf original Hebräisch verkündet wurde. Und ich kann mit gutem Gewissen behaupten, daß für ein Kind nichts interessanter ist als seine Hand am ... Leviticus. Außerdem ist ein Schulkind, das heute noch darüber aufgeklärt werden muß, wie es onanieren soll, ohnehin zu dumm für die Schule.

Der Newt, vor Weihnacht, trug als dritte und beste Idee vor, die Bundesmittel für unverheiratete Mütter zu streichen und ihre Kinder in Waisenhäuser zu stecken. In „Boys Town“ von 1938 (mit Mickey Rooney und Spencer Tracy) sah er ein Modell für diese künftigen Orte des Glücks. Viele Amerikaner bezeichneten diesen Plan als grausam, darunter auch Hillary Clinton. Ein ehemaliger Leiter des wirklichen Waisenhauses Boys Town schrieb in der New York Times über die vielen Untersuchungen, wonach arme Kinder die besten Chancen auf ein produktives Leben haben, wenn ihre Familien zusammenbleiben und Regierungsgelder dazu verwendet werden, daß sie zur Schule gehen können.

Fünf Millionen amerikanische Haushalte erhalten heute Bundeshilfe. Die Hälfte wird von Frauen geführt, die nie geheiratet haben und also nach Newts Plan keine Hilfe mehr erhalten würden. Jede dieser Frauen hat im Durchschnitt zwei Kinder. Wenn sie keine Hilfe mehr erhielten, weil sie nicht verheiratet sind, müßten ihre fünf Millionen Kinder in Waisenhäusern untergebracht werden. Das sind fünf Millionen à 36.500 Dollar macht 182,5 Milliarden Dollar jährlich.

Aber Newts Kritiker verstehen ihn einfach nicht. Bis zu meinem 16. Lebensjahr besuchte ich Schulen in meiner Nachbarschaft, wo in allen Kinos Filme liefen wie „Boys Town“. Und ich kann mit gutem Gewissen behaupten: Es gibt nichts Besseres als Filme mit Mickey Rooney, um einem Kind beizubringen, daß Filme nichts mit richtiger Sozialpolitik zu tun haben. Man sollte Festivals mit Mickey-Rooney-Filmen veranstalten, dazu noch „It's a Wonderful Life“ oder „Miracle on 14th Street“ in der alten Fassung. Für Schulkinder müßte ihr Besuch Pflicht sein – direkt nach dem Schulgebet. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen