"Shakespeares Sonette" im Berliner Ensemble: Quecksilbriger Witz
Kapriziöse Körper, unnütze Dinge: Mit "Shakespeares Sonette" brachten Wilson und Wainwright am Ostersonntag im Berliner Ensemble die queere Seite Shakespeares zum Vorschein.
Ja, auch Prominenz mischte sich im Foyer des Berliner Ensembels unter das drängelnde Premierenpublikum. So etwa Georg Uecker alias Carsten Flöter von der Lindenstraße und, nicht minder glamourös, Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Allerdings wurde ihre Präsenz überstrahlt von der des Mannes, dessen sonore, melodiöse Stimme auch im Sprechmodus mühelos an jeden Ort inklusive der Theatertoilette drang und dessen Paillettenkrawatte glänzte wie König Duncans Silberhaut ("von goldenem Blut verbrämt"). Wer vorher Zweifel gehegt hatte, musste nun einfach fühlen, dass Rufus Wainwright der Richtige sein würde für Shakespeares Sonette. Denn er ist als Songwritergenie - Einspruch abgelehnt, und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie Elton John - nicht nur entfernter Ahne des großen Barden selbst, sondern als kapriziöser Körper auch würdige Rematerialisation des Adressaten der Sonette, des geheimnisumwobenen, jungen, schönen Mr. W. H.
Und doch war die Erwartung leicht bang, denn das hier würde ja kein Oratorium, sondern eine Inszenierung von Robert Wilson, und es war deshalb nicht auszuschließen, dass eine Schar singender Schauspieler und theatralischer Einfälle feindlich zwischen Wainwright und Shakespeare treten könnten.
Zu Beginn des Stückes sah es auch tatsächlich so aus. Per Quizshow-Signalton wurde nach und nach das ganze Personal herbeizitiert. Es gab Shakespeare in jung und alt, Königin Elisabeth, zwei Knaben, einen Narren, die dunkle Frau, einen Sekretär, einen Eros und noch einiges mehr. Kostüm und Bühnenbild verfremdeten - wie von Wilson zu erwarten - surreal elisabethanischen Stil.
Vom so geschaffenen Ambiente und der gebärdenstarken Figurensprache, welche die derbe Clownerie der Typenkomödie zitieren sollte, fühlte man sich rasch etwas zu penetrant bezaubert. Und das umso mehr, als mit einem Repititionswahn, der nun wieder paradigmatisch fürs moderne Theater ist, ausgerechnet auf der ersten Zeile des Sonetts 43 ("Ich seh viel mehr, mach ich die Augen zu") herumgeritten wurde, was isoliert und in diesem Kontext fast schon "Abenteuerland"-mäßig rüberkam. Wainwrights Musik schien dabei zur reinen Untermalung für einen öden Rezitationszirkus und einen pauschaltouristischen Blick auf das 16. Jahrhundert degradiert.
Dies änderte sich im weiteren Verlauf des Abends. Dichtung, Musik und Schauspiel kamen sich immer näher und bekamen einen teilweise mehr als flotten Dreier hin. Der erste große Moment war das Sonett 76. Sylvie Rohrer deklamierte es als junger Poet in Drag mit dem androgyn-quecksilbrigen Trickster-Witz eines Sommernachtstraumkobolds, gleichzeitig aber mit dem geheimnisumflorten Ernsthaftigkeit des frühen Jochen Distelmeyer, und als sie das nächste Sonett dann sang, hörte man zum ersten Mal Wainwrights unverwechselbare Stimme aus der Komposition heraus, seinen zarten Ton zwischen Folksong und Spätromantik.
Apropos androgyn: Shakespeares queere Seite verhandelte Wilson nicht nur, indem er praktisch alle Rollen mit Schauspielern des gegenteiligen Geschlechts besetzte - ein Kunstgriff, der ja ohnehin zur Hälfte durch die elisabethanische Spielpraxis gedeckt war -, sondern auch durch gezielt gesetzte, kongeniale Highlights. So etwa in der Visualisierung des berühmten, weil gendertechnisch tatsächlich spektakulären Sonetts Nr. 20, in dem die Natur den schönen Jungen eigentlich als Mädchen schafft, sich dann aber in ihn verliebt und ein aus Sicht des Dichters unnützes Ding ("prick") hinzufügt. Bei Wilson gibt sich der Junge, während die letzten Zeilen erklingen, selbst eine Spritze. Dies kann man als bloßes Spiel mit der Doppeldeutigkeit von "prick" verstehen oder als eine davon ausgehende Metapher für das süße Gift narzisstischer Selbstbefruchtung. Aufregender ist allerdings die Deutung, dass hier die hormonelle Vorbereitung auf eine operative Geschlechtsumwandlung dargestellt wird.
Auch musikalisch war dieses Sonett ein Höhepunkt, die Melodie, zugleich lasziv und beruhigend, erinnerte an den großartigen Titelsong von Wainwrights Album "Poses". Folgerichtig gab es dieses Sonett dann auch als Zugabe, vom Meister selbst beziehungsweise - wie er sich selbst mal besang - vom "gay messiah".
Und als Wainwright dann noch die deutsche Version des Sonetts 154 mit dem Zettel in der Hand derart charmant vergeigte, dass jeder Mensch im Besitz eines Herzens einfach durchdrehen musste, war der dem erotischen Idealismus geweihte Abend vollends denkwürdig.
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