■ Seltsames Brauchtum im oberbayerischen Dorfidyll: Frauenfeinde und Büchsensammler
Miesbach (taz) – „Die spinnen, die in Fischbachau“, mag sich ein Reisender beim Durchfahren des oberbayerischen Dorfidylls denken: entlang der Hauptstraße des kleinen Ortes reihen sich, sorgfältig im Abstand von einem Meter, leere Erbsen-, Thunfisch- und Katzenfutterdosen. Am Dorfausgang überspannt ein Transparent die Straße: „Büchsensammler- Schmerl“ prangt dort in großen Lettern. Nun hat sich der Ortsfremde ja bereits mit einigen merkwürdigen bayerischen Sitten abgefunden; diese Eigenart jedoch weckt seine Neugier.
Ein Anruf bei der Fischbachauer Gemeindeverwaltung gibt Aufschluß: „Mei, des“, informiert die Angestellte, „da hat wohl einer ein Mädchen bekommen. Die Freunde stellen dann solche Dosen raus, und der Vater muß sie wieder einsammeln. Aber eigentlich kommt das ja eher aus Miesbach.“ In Miesbach gibt der Heimatforscher und Gymnasiallehrer Dr. Gerd Maier bereitwillig Auskunft: „Der Mann wünscht sich halt immer einen Stammhalter, die Frau wird ja nicht als so wichtig angesehen. Büchsen, das ist eben so ein Spottbegriff, der meint im Grunde genommen die Scheide der Frau. Das hat schon was Diskriminierendes.“ Ihm selbst wurde bei der Geburt des ersten Kindes ein Hefezopf überreicht: er hatte den gewünschten Buben gezeugt.
Wie oft ein Miesbacher „Büchsenmeister“ auf Sammeltour gehen muß, kann Maier nur schwer schätzen: „Bei uns werden pro Jahr etwa 500 Kinder geboren. Wenn die Hälfte Mädchen sind, und ein Drittel der Leute folgt dem Büchsen-Brauch, werden es vielleicht so 80 Väter sein.“ Gesicherte Statistiken gibt es allerdings nicht. Schließlich hat der Büchsensammler ein Interesse daran, seine „Tat“ zu vertuschen, und sammelt den Unrat möglichst rasch ein.
Wo die seltsame Sitte ihren Ursprung hat, weiß niemand so genau. Die Chronisten reden darüber nur ungern. Dr. Maier zum Beispiel meint: „Das machen die Leute schon immer und dann nach dem Zweiten Weltkrieg stärker.“ Dabei ignoriert er großzügig, daß es Konservendosen nicht „schon immer“ gab. Dagegen nimmt er aber recht genaue geographische Eingrenzungen vor: „Hauptsächlich gibts das wohl im Miesbacher Oberland, also außer in Miesbach in den Landkreisen Rosenheim, Ebersberg und Bad Tölz.“
Der Kreisheimatpfleger von Rosenheim ist sich da nicht so sicher, außerdem hält er „diese Unsitte, das ist ja eigentlich gar kein Brauch“, eher für eine Erfindung der Neuzeit, „schon wegen der Büchsen.“ Er vermutet, daß die „nordgermanische Schickeria“ die Unsitte eingeschleppt hat.
In Bad Tölz und in Ebersberg weiß man zwar von dem Büchsen- Brauch, aber nichts Genaues. Man verweist auf Paul Ernst Rattelmüller, inzwischen pensionierter Chronist oberbayerischer Geschichte(n). Doch der gibt sich zugeknöpft: „Das sollten Sie mal lieber verschweigen.“ Ein Schmarrn sei das, eine Taktlosigkeit.
Frau Jung vom bayerischen Heimatpflegeverein zeigt sich ebenfalls schwer empört: „Das wird ja wohl Zeit, daß sowas endlich abgeschafft wird, sowas Frauenfeindliches.“ Sie gibt zu, das ihr Verein nicht über das Büchsensammeln archiviert.
Dr. Haarvolk vom Institut für Volkskunde hat auch keine Ahnung von den Ursprüngen der Konserven-Sitte. Jedoch verweist er auf einen anderen, jungen Brauch: „Seit einigen Jahren stellen die Leute Hochzeitsbäume im Garten von Frischvermählten auf. Diese behängen sie mit Babykleidung, Windeln und anderen nützlichen Utensilien“, weiß Haarvolk zu berichten. Na bitte, es gibt also auch noch Brauchtum mit Gebrauchswert. Sylvia Voß
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