Sechskommanull : Verkehrte Welt
KATARINA WITT schreibt, warum der DDR-Sport kapitalistisch war, es dafür im deutschen Sport von heute sozialistisch zugeht
Leistung, Leistung, nochmals Leistung – in keinem anderen Bereich der DDR-Gesellschaft wurde das Leistungsprinzip derart konsequent und kompromisslos durchgesetzt wie im Sport. Das begann bei der Suche nach Talenten, setzte sich bei der Förderung des Nachwuchses fort und endete bei der Belohnung der Spitzenathleten.
Mein Weg führte mich damals in Karl-Marx-Stadt direkt vom Betriebskindergarten in den Sportklub. Das geht heute schon deshalb nicht mehr, weil es keine Betriebskindergärten mehr gibt. Normalerweise wurden sportliche Talente ohnehin durch die Trainer entdeckt, die von Schule zu Schule pilgerten und systematisch nach Kindern suchten, die Freude und Begabung für verschiedene Sportarten mitbrachten. Mit dieser gründlichen Suche ist zu erklären, dass ein kleines Land wie die DDR derart erfolgreich im Sport war.
Heute verlässt man sich darauf, dass ambitionierte und ehrgeizige Eltern selbst aktiv werden und ihre Kinder zu den Eislauf-Vereinen bringen. Scharen von Kindertrainern, die geduldig im ganzen Land nach Talenten suchen und mit deren Ausbildung beginnen, kann sich der deutsche Sport längst nicht mehr leisten. Ein „Casting“ gibt es heute selbst im Fernsehen für alle möglichen und unmöglichen Talente. Für Sportarten, die zunächst kein Geld bringen, sondern etwas kosten, gibt es so ein Casting leider nicht.
War ein Talent dann erst einmal entdeckt, wurde es gehegt und gepflegt. An den anderen, weniger begabten Kindern verlor das DDR-Sportsystem schnell das Interesse. Es herrschte eine streng leistungsorientierte Auslese. Ich wechselte in der 3. Klasse an die Kinder- und Jugendsportschule meiner Heimatstadt, ab der 5. Klasse erhielt ich dort Einzelunterricht. Die Schule nahm auf den Trainingsalltag der Sportler Rücksicht, ohne etwas zu verschenken. Natürlich gab es im Alltag der DDR wenige Alternativen, die so viel gesellschaftliche Anerkennung und materielle Vorteile versprachen wie der Leistungssport. Natürlich war auch die Aussicht verlockend, durch die Reisen zu internationalen Wettbewerben ein wenig die Welt zu entdecken. Aber das entscheidende Motiv für mich war nichts anderes als die Beste zu sein. Ich war knapp 14, als für mich feststand: Erst an der Weltspitze werde ich zufrieden sein. Für dieses Ziel habe ich bis zu sieben Stunden am Tag trainiert. Heute finden junge Sportler diese Bedingungen in ihren Schulen äußerst selten vor. Im Osten der Republik haben zwar einige sportbetonte Schulen überlebt, der Andrang zu diesen Schulen ist auch wieder groß. Aber viele junge Sportler verlieren früh die Lust, entdecken andere Hobbys oder entwickeln sich einfach nicht mehr weiter. Sie verbleiben aber trotzdem an diesen Schulen. Will man daran etwas ändern, müssen vom Staat Eliteschulen gefördert werden, in denen sich sportliche, musische und auch naturwissenschaftliche Talente entwickeln können. Nur die Besten behalten dort ihren Platz. Die Länge der Schulzeit muss flexibel sein, der Stundenplan und Lehrumfang muss sich am Trainingspensum orientieren. In einigen Sportarten wird erst im Erwachsenenalter am intensivsten trainiert, im Turnen oder Eiskunstlaufen ist dies schon viel früher der Fall.
Hatte ein Sportler in der DDR den Spitzenbereich erreicht und seinem Land Meistertitel und Rekorde heimgebracht, wurde er mit Privilegien belohnt. Das begann bei Apfelsinen zum Mittag und hörte bei verkürzten Wartezeiten für ein Auto auf. Wenn ich drei Tage in Tokio für einen Wettkampf war, hatte ich zwar von der Stadt wenig gesehen, aber wenigstens das Gefühl, ein Stück der weiten Welt zu erleben.
Aber noch wichtiger als die sichtbaren Belohnungen war die Anerkennung in der Gesellschaft. Sie war natürlich politisch motiviert, weil die DDR sich mit Siegern schmücken wollte. Aber die Wertschätzung für den Einzelnen blieb über das Ende seiner Karriere hinaus bestehen. Gaby Seyfert, die Anfang der 70er-Jahre Weltmeisterin im Eiskunstlaufen war, blieb bis in die letzten Tage der DDR eine populäre Person. Heute verblasst der sportliche Ruhm viel zu schnell. Wer sich nicht in den Medien hält, wird vergessen. Hierzulande werde ich als „ehemalige“ Olympiasiegerin vorgestellt, in den USA heißt es immer: „The 2time olympic champion.“ Man ist es und bleibt es.
Doch im deutschen Sport erreichen immer weniger Athleten die Weltspitze. Gleichmacherei und Mittelmaß sind der Alltag. Trainer werden teilweise nach der Anzahl ihrer Kaderathleten bezahlt. Die Sportförderung erfasst zu viele Sportler, die vorhersehbar weit entfernt von Titel und Medaillen bleiben werden. Dem deutschen Sportsystem der Gegenwart fehlt oft der Mut zur kompromisslosen Leistungsbereitschaft. Und den Sportlern fehlt es oft an Härte, sie wechseln zum Beispiel die Eiskunstlauf-Vereine, weil ihre Trainer zu streng sind. Ich hatte mit Jutta Müller über viele Jahre die strengste und gnadenloseste Trainerin der Welt. Welch ein Glück für mich.
Es gibt Gebiete, auf denen man sich kurzfristig und erfolgreich mit Mittelmäßigkeit und ohne Talent durchmogeln kann. Olympiasiegerin wird man so allerdings nie.
Erfolge im Leistungssport sind möglich, auch heute noch. Man muss sie nur ernsthaft wollen und mit aller Konsequenz, Planbarkeit und Ausdauer anstreben. Das trifft auf einen Staat genauso zu wie auf eine einzelne Person. Wer nur alle vier Jahre nach Olympischen Spielen jammert, dass es wieder weniger Medaillen geworden sind, wird nichts ändern, solange er sich nicht selbst bewegt. Als Sportler nicht, als Sportsystem auch nicht.